Wir erblicken in der „Vorführung“ aus Miami also einen Mann, als Entre ins Bild als Repoussoirfigur. Er trägt eine grüne Hose und ein weißes Unterhemd. Den roten Flecken auf dem Hemd dichten wir sofort Blutspuren an, denn er hat seine Rechte, bewaffnet mit einem Stab vor sein Antlitz gehalten. Was hier wie ein Angriff auf den rechts vor ihm stehenden Mann aussehen könnte, ist gleichzeitig ein Zurückweichen und Schutz vor dessen Instrument, einem dünnen Stock, der schon niedergesaust ist, denke man, denn er zeigt mit dem rechten Arm schon nach unten links. Andererseits mutet der dünne Stab wie ein Dirigierstab an, den diesen Herrn, denn er ist im pinkfarbenem Frack, im gerade gegebenen Dirigiereinsatz zeigt, während seine Linke mit ausgestrecktem Zeigefinger hoch erhoben den nächsten Einsatz gibt. Wem allerdings? Denn der ausgestreckte Finger kann gleichzeitig das Niederknüppeln der vor ihm stehenden, uns rückwärtigen, eher proletarischen Figur anzeigen. Erneut fragt man deshalb, wem zeigt er was an?
Erst einmal einem von Links kommenden, sehr dicken daherschreitenden Herrn im Stile des Ancien Regimes, der elegante grünliche Lederstulpen trägt und mit Stolz einen ungeheuren Bauch – früher Ausweis der Wohhabenheit – und im Zylinder daherkommt auf einer knallgelben Wolke, die wie ein Wurm geformt ist, mit einer Seehundschnauze, die Klötzchen jongliert. Doch die Geste des Pinkfarbenen gilt wohl stärker noch der dunkelhäutigen Mutter Dolorosa, die am linken Bildrand das Gesamtgeschehen überwacht und dominiert, angetan mit einem langen dunkelblauen Marienmantel, madonnengescheiteltem langen schwarzem Haar, einer umlaufenden grüngelben Blumengirlande und einem ebenso farbigen Blumenkranz im Haar. Mit gefalteten Händen und demütig mit niedergeschlagenen Augen sowie postiert unter einem grünen Baum, nimmt sie das Gesamtgeschehen zur Kenntnis.
Was der Titel „Vorführung“ des 2006 geschaffenen Werkes aussagt? Nehmen wir es wörtlich und folgen der Vorführung. Denn wir haben erst die linke Hälfte des Bildes beschrieben, die in den blauen, schneebestäubten Bergen spielt, eine weiße Kirche im Hintergrund mit solidem Kirchturm zeigt und grünen Boden, aber auch Wasser und mit dem besagten gelben Wurm einen hellen Bildfleck zeigt. Rechts dagegen ist der Abhang, denn man kann man weitere Kirchtürme schon den Berg hinunterpurzeln sehen in eine pinkfarbene Atmosphäre, die weder Himmel noch Erde ist, sondern das scharfe Rosa als rosa Nichts erscheinen läßt, denn in den ein Drittel der Gesamtfläche einnehmenden Rosas, die auf einmal wie Fluten erscheinen, versinkt schon eine weiterer Kirchturm. Am unteren Rand des Bildes auf der Rechten steht ein weißgedeckter Tisch, an dem rechts von unserem muskulösem Hemdträger von eben ein blaulila gewandeter Grauhaariger und negroid anmutender Mann mit erhobenem Kopf sitzt, über den sich ein hinter dem Tisch Stehender beugt. Aber es wird ihm wohl nichts eingeflößt, was man angesichts der willfährigen Haltung vermutet, sondern der auf der anderen Tischseite stehende Mann zieht ihm eher eine dünne Perlenschnur aus dem Mund. Wohl schon länger, denn er hat mehrere Lagen davon um seine Hand gewickelt. Dieser wiederum trägt zur gelber Hose einen tiefdunkelroten Pullover mit hellem pinkfarbenen Kragen und einem Käppi, das ihn wie einen Türken erscheinen läßt. Neben dem Lilablauen, dessen Kleidung schon wieder einmal einem Biedermeierrock ähnelt, sitzt ebenfalls im Profil ein Stierköpfiger. Er ist dunkel gekleidet, hat den Kopf mit der Rechten auf dem Tisch aufgestützt und stiert vor sich hin – auch mal schön, daß ein Stierköpfiger stiert. Aus seiner bräunlich violetten Kleidung entfleucht eine Blase, die eine Sprechblase wie auch eine Gedankenblase sein kann, auf jeden Fall geradezu intellektuell anmutet, während die Sitzflächen aus dunkelgrünen umgestülpten Bierkästen bestehen. Am Nacken des Gehörten macht sich eine Frau zu schaffen, die im gestreiften Hauskleid wie Madame Cezanne wirkt, ihm den Rücken grault, vielleicht massiert, vielleicht streichelt, auf jeden Fall sieht diese Geste hilfreich aus, und einen Gedankenblitz hat sie in Form einer leeren Blase wohl auch, denn von diesem Mann mit dem niedergerichteten Blick, ja eigentlich geschlossenen Augen und dem hinuntersinkenden Kopf geht etwas Zerbrochenes, Trauriges, Nichtwiedergutzumachendes aus, was die Figur neben ihm, ganz rechts außen zu bestätigen scheint. Diese Puppenfigur eines Harlekins mit langer gelber Nase liegt rücklings auf dem weißen Tischtuch, der Unterkörper dem Tischtuchverlauf folgend nach unten verlaufend.
So folgen wir dem Verweissystem laut Raffael und wissen doch nicht, um was es hier geht, im Freien, vor der Bergkulisse und der ins Rutschen gekommenen äußeren Welt. Und nun kommt eine weitere Figur hinzu, die kleiner hinter der gesamten Gruppe auf der Rechten steht. Es ist eine Frau im ärmellosen dunkelroten Kleid und rotem Bubikopf, die ein aufgeschlagenes Buch gen Himmel richtet, oder auf den Kirchturm hin, so als ob Sonnenstrahlen aufgenommen oder esoterische Botschaften versendet würden. Die Unheimlichkeit dieser „Vorführung“ gipfelt jedoch in der Anfangsfigur, dem uns rückwärtig stehenden Angreifer oder Zurückweicher. Seine linke Hand findet Fortsetzung in einer dicken Wasserschlange, oder vielleicht schlimmer: sie ist von dem gefräßigen Wassertier, das sich aus den Fluten erhebt vielleicht schon gefressen worden. Und blickt man genauer hin, sieht man jetzt, daß die Madonna und der feine Herr sowie der gelbe Wurm auf der Linken auf einem mit Pfählen im Wasser versenkten Podest stehen, demnach nicht nur die Rückwärtsfigur, sondern auch der rechts stehende Tisch eigentlich in den Fluten stünde. Doch das sehen wir nicht und es ergibt ja auch keinen Sinn, denn den Abgrund über einem und gleichzeitig unter einem, das wäre zuviel der menschlichen Pein. Oder geht es gerade darum, daß kein Maß ist, keine Gerade und die gesamte Welt ins Rutschen gekommen ist, auch da, wo noch sicher wähnende Tische und Stühle (Bierkästen) stehen. Damit verlassen wir das Bild und lesen nach, was die Eingeweihten im Katalog schreiben. Erst selber gucken, dann lesen!
Der Katalogtext von Petera Lewey, Leiterin Kunstsammlungen Zwickau und Klaus Fischer, Autor und Kurator, halten sich in der Hälfte des Textes im Allgemeinen auf, mit der Konsequenz: „Die Protagonisten Neo Rauchs entwickel(te)n sich von den arbeitseifrigen, starken, aber dennoch ferngesteuert scheinenden Helden der postindustriellen Randgebiete zu den nostalgisch schauspielernden Geisteshelden der Bühnen und Theater.“ (104) Zur „Vorführung“ selbst schreiben sie, daß auf dieser an Schiller gemahnenden Schaubühne als moralische Anstalt die Figuren versuchen „zitierend, gestikulierend oder verzweifelt die alten Werte hochzuhalten, steuern aber wie seinerseits die großen intellektuellen Praktiker einem grandiosen Scheitern zu.“ (104) Tableauhaft seien sie versammelt, die einst Schillers Hoffnungen auf Weisheit und sittliche Bildung durch Kunst einlösen sollten. Doch die Aktivisten merken nicht, daß die Ideale, wie die deutschen Denkmäler – im Bild als Kirchtürme bezeichnet – in den Abgrund stürzen. Und die von uns als Madonna bezeichnete gewaltige Mutterfigur sei als Muse zu verstehen. Naja.
Angesichts unserer Anstrengungen, das Gemälde sinnvoll zu interpretieren, die hier ja nur einem der 60 Gemälde galten, die in München zu sehen sind, beschließen wir dann uns an des Meisters Worte zu halten, der deutlich davon abrät, in seinen Bildern Geschichten nachzuspüren. Er wünscht sich, daß der Betrachter Farben und Formen sieht – wie weiland Cezanne – und sich auf deren Erleben beschränkt und die Sinnsuche läßt.
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Ausstellung: Bis 15.8.2010 Leipzig und München
Katalog: Neo Rauch. Begleiter, HatjeCantz 2010
Hans Werner Schmidt, der Direktor des Museums der bildenden Künste Leipzig und Klaus Schrenk, Generaldirektor Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München haben für ihre Häuser die Ausstellungen kuratiert, gemeinsam das Geleitwort sowie eine ausführliche Einleitung verfaßt und verantworten die beiden Katalogteile, die man von vorne und hinten als Wendebuch gleichermaßen studieren kann, einmal ist die Leipziger Ausstellung Inhalt, ein andermal die Münchner. Dann folgt ein Index der abgebildeten Werke – sinnvoll! – und die ganzseitigen Abbildungen, zu denen einzelne Werke eine Erläuterung finden, von Kunsthistorikern oder Künstlern wie die von Jonathan Meese auf den Seiten 34/35, der auf einem Bild von 2005 mit dem Titel „Kommen wir zum Nächsten“ mit Saint Justs rechter Hand, die in eine Aktentasche fährt, spielt. Ausgerechnet Saint Just, der hier ohne weitere Erläuterung vom verschwiegenen Säulenheiligen der Französischen Revolution – erst in den 80ern des vorherigen Jahrhunderts wurde ihm, initiiert durch eine Wiener Enthusiastin, im Geburtsort in Südfrankreich ein Denkmal gewidmet –zur allbekannten Figur mutiert.
Die Münchner Seite, die mit „Wahl“, einem gelb-grün-schwarzen wie eine Grafik erscheinendem Gemälde von 1998 auf 300 x 200 cm, bebildert ist, das die Pinakothek als erstes Rauchwerk ankaufte, bietet dieselbe Gestaltung. Der Katalog ist insofern eine Hilfe im Nachhinein, als sich die unendliche Bilderflut im Kopf nach den Ausstellungen auf einzelne Bilder kaprizieren läßt, die man nun – mit allen im Kopf – noch einmal mit anderen Augen anschauen kann und vielleicht besser verstehen zu können glaubt.
Internet: www.mdbk.de, www.pinakothek.de, www.neo-rauch-ausstellung.de, www.hatjecantz.com