Die Hölle auf Betriebsausflug? Fast so, als hätten sich die Schlünde der Unterwelt auf ein geheimes Kommando hin geöffnet und Rotten illustrer Gestalten ausgespuckt. Eigens dazu ins Diesseits berufen, um mit Furcht erregendem Aussehen und Ohren betäubendem Lärm den ihnen begegnenden Menschen einen gehörigen Schrecken einzujagen. Mit ihren wüst dreinblickenden Augen, ihren gefletschten Zähnen und ineinander verwachsenen Hörnern. Gerade so, als habe sich der Leibhaftige mit seiner Entourage persönlich hierher auf den Weg gemacht.
Auch der zweite Blick schließt einen Irrtum der sinnlichen Wahrnehmung aus. Denn der gesamte Körper zeigt sich bedeckt mit zottigen Fransen, die wohl noch nie einen ordnenden Kamm gespürt haben. Und auf dem Rücken baumeln jeweils drei kugelrunde Schellen, die bei jeder ruckartigen Bewegung des Körpers heftig scheppernde Geräusche aussenden. Jeder Laut versehen mit der warnenden Botschaft: „Komm mir nur nicht zu nahe! Sonst ziehe ich Dir die Ohren lang oder verabreiche Dir mit meiner Rute aus Birkenreisern eine gehörige Tracht Prügel!“
Draufgängerische Heimsuchung
Unüberschaubar die Anzahl der in wildem Ungestüm agierenden Gruppen, die alljährlich zum Nikolaustag wie Naturereignisse über das Gasteiner Tal im Salzburger Land herein brechen. Und bei jedem ihrer Auftritte auf den Straßen und Plätzen des Tales emotionale Fieberschübe auslösen, vor denen es angesichts schroff aufragender Felswände offenbar kein Entrinnen gibt.
Auch das Innere der Wohnhäuser bleibt nicht verschont, wenn die hoch aufragenden Zwei-Meter-Kerle sich in gebeugter Körperhaltung durch viel zu kleine Hauseingänge einen Zugang zum Privatbereich der Talbewohner verschaffen. Und auch hier mit ihrem draufgängerischen Auftreten zeigen, wer in diesen Minuten bangen Hoffens der wahre Herr im Haus ist. Eine Heimsuchung ähnlich den biblischen Plagen im Alten Ägypten?
Mystische Erlebnisse
Clemens Hübsch, einer der angesehensten Maskenschnitzer im Gasteiner Tal, kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Gehört es doch zu seinen Aufgaben, mit traditioneller Kunstfertigkeit den Furcht erregenden Krampussen des Gasteiner Tales ein standesgemäßes Aussehen zu verleihen. Um sie damit nach altem keltischen Brauch auch zu befähigen, wirkungsvoll die in der Bergeinsamkeit hausenden bösen Geister auszutreiben?
Eine gängige Meinung, aber ohne Einbeziehung der christlichen Tradition seiner Meinung nach zu kurz gegriffen. Anzusetzen wäre vielmehr bei den außergewöhnlichen Nächten zwischen Nikolaustag und Heilige Drei Könige, wenn sich gemäß altem Volksglauben das Jenseits zum Diesseits einen kleinen Spalt breit öffnet. Und dabei die in der Volksseele verankerte christliche Mythologie sich zur Realität entfaltet. Ja darüber hinaus sogar Raum schafft für mystische Erlebnisse, bei denen zuweilen das Göttliche Einzug hält bis tief hinein ins Menschliche.
Animalische Erotik
Davon jedoch ist zunächst einmal nichts zu spüren. Denn im wüsten Getümmel des Krampus-Auftritts scheint es vor allem auf einen Aspekt anzukommen: die unverstellte Männlichkeit. Sich hinter der Maske des Abscheulichen einmal im Jahr unkontrolliert in animalischer Erotik ausleben zu dürfen, das scheint ungeahnte Kräfte zu mobilisieren, mit deren Hilfe viele über sich selbst hinaus wachsen. Denn allein das Gewicht des Kostüms erfordert einen erheblichen Kräfteeinsatz. Ebenso das ausgelassene Agieren, das zur traditionellen Krampus-Rolle zwingend dazu gehört.
Auch die Frauen scheinen es zu mögen. Wenn echte Kerle dieses Zuschnitts Interesse an ihnen zeigen und mit ihrem symbolisch vollzogenen Körperkontakt die um sie herum versammelte Weiblichkeit in Augenschein nehmen. In einem kurzen Moment der Befreiung von allen Konventionen der Zivilisation, ja sogar in einer neuen Polarisierung der Geschlechterbeziehung?
Adoption des Nikolaus
Wie nicht anders zu erwarten, konnte ein solch wildes Treiben bereits der christlichen Kirche des Mittelalters nicht sonderlich gut gefallen. Das Verbot der alten Tradition stand daher zu befürchten und ein Kunstgriff musste her! Der bestand darin, so Krampus-Experte Clemens Hübsch, den Heiligen Nikolaus, den wohl berühmtesten und einflussreichsten aller Heiligen, selbstbewusst zu adoptieren und ihn an die Spitze der wilden Gruppen zu setzen. Welcher christliche Würdenträger hätte gegen eine solche Demutsgebärde noch etwas einwenden können?
Umgekehrt war auch der Weg frei für eine Entwicklung in der anderen Richtung. Denn schon bald bestand die Pflicht der Krampusse nicht mehr ausschließlich darin, vorchristliche böse Geister zu vertreiben. Vielmehr fiel ihnen nun die Aufgabe zu, sich dem Heiligen Nikolaus unterzuordnen und in seinem Auftrag die christliche Botschaft gegenüber allen zu verteidigen, die sich ihr verweigerten. Die „Kramperl“, wie sie bald liebevoll genannt wurden, demnach als Verteidiger des Guten gegenüber dem vermeintlich Bösen?
Ausgleichende Gerechtigkeit?
Eine Sichtweise, die man im Gasteiner Tal bis heute schätzt und die die Beliebtheit der zahlreichen „Krampus-Passen“ begründet. So die Bezeichnung der Grüppchen und Gruppen, jeweils angeführt vom Nikolaus. Und dieser begleitet von einer lichten Engelsgestalt sowie einem Korbträger, in dessen Rückentrage all die mitgebrachten Geschenke verstaut sind.
Sind die Krampusse mit ihrem höheren Auftrag, die Guten zu belohnen und die Bösen zu bestrafen, somit die Vollstrecker einer ausgleichenden irdischen Gerechtigkeit? „Es wird schon die Richtigen treffen“, mögen sich manche sagen, wenn Schaulustigen die Ohren lang gezogen werden oder Rutenbündel nach dem Floriansprinzip auf diverse Hinterteile hernieder prasseln. Dennoch bleibt unter der Kontrolle des Heiligen Nikolaus die äußere Ordnung augenzwinkernd gewahrt.
Banges Hoffen
Hans Naglmayr, Ranger im angrenzenden Nationalpark Hohe Tauern, kennt das Gasteiner Tal wie kein Anderer und hält für den Nikolaustag eine zusätzliche Überraschung bereit. Es ist ein Abstecher in das kleine Kötschachtal. Eine malerische ländliche Umgebung, in der bei einer Höhenlage von über tausend Metern der Schnee zumeist länger liegen bleibt als weiter drunten im Tal. Auf einem der Bauernhöfe glaubt man sich an diesem hohen Feiertag in der Tat zurückversetzt in die längst vergangen geglaubte „gute alte Zeit“.
Mit spürbarem Herzklopfen sitzen die Kinder in Erwartung des Heiligen Nikolaus auf einer langen Bankreihe. In bangem Hoffen, ob beim anstehenden Jahresrückblick eher Lob als Tadel im Vordergrund stehen wird. Schon kommt er mit wehendem Mantel angestapft durch den hohen Schnee an der Spitze seiner illustren Gefolgschaft. Aus sicherer Entfernung auch vorsichtig gemustert von den Blicken all derer, die es bevorzugen, bei dem stets vorhandenen Restrisiko lieber verborgen zu bleiben.
Bannen des Bösen
Die Zeremonie kann beginnen, bei der den Kindern ein kleines Gedicht oder der Vortrag eines Liedes abverlangt wird. „Nicht so falsch!“ ruft der Heilige Mann der „Kühkar-Pass“, der beim gemeinsamen Gesang die Maßstäbe für harmonischen Wohlklang wieder zurechtrückt. Kleine Geschenke gibt es aber trotzdem, bevor die Krampusse ihres Amtes walten. Vor allem dadurch, dass sie einigen der Kinder, zweifellos auf einem Nebenpfad moderner Pädagogik, einen gehörigen Schrecken einjagen. Doch das gehört hier offensichtlich dazu, scheint doch jedes von ihnen zu ahnen, wer sich hinter diesen Furcht erregenden Masken in Wirklichkeit verbirgt.
Und so wird das Krampusfieber sicherlich auch noch die nachfolgenden Generationen befallen, wenn die rauen Gesellen um den Nikolaustag herum als die Vorboten der Bergweihnacht in Erscheinung treten. Und sich auf Geheiß des Heiligen Nikolaus anschicken, mit ihrem engagierten Einsatz das von sündhaften Menschen praktizierte Böse für die kostbarsten Tage des Jahres zu bannen.
Reiseinformationen “Gasteiner Tal”:
Anreise: Mit dem Auto auf der Tauern-Autobahn über Salzburg bis Bischofshofen, weiter auf der B167 ins Gasteiner Tal; mit dem Zug über Salzburg, von dort alle 2 Stunden nach Bad Gastein; mit dem Flugzeug