Die Ausweitung der Brüsseler Macht vom Verwaltungszentrum zum Staatenbund – Serie: Griff nach der Staatsmacht (Teil 2/2)

Ein Gebäude für die EU-Bürokratoren in Brüssel. Quelle: Pixabay, Foto: Dimitris Vetsikas

Berlin, BRD (Weltexpress). Der Italiener Mario Draghi ist einer derjenigen, die die Zentralisierung der EU stetig weiter vorantreiben. Der unter seiner Ägide erstellte Bericht „Die Zukunft europäischer Wettbewerbsfähigkeit“ ist gewissermaßen der Speiseplan der kommenden Entwicklungen.

Der Drang in der EU und insbesondere in der EU-Kommission, sich von einem Verwaltungszentrum für einen Staatenbund in eine neue Form Staat zu verwandeln, ist noch lange nicht verwirklicht. Das hindert nicht daran, in Konzepten wie Draghis Strategiepapier sehr weitgehend staatliche Kompetenzen einzufordern: „Gegenwärtig ist die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen eine nationale Zuständigkeit, und die Mitgliedsländer müssen nur Benachrichtigungen und Informationen austauschen. Diese Fragmentierung hindert die EU daran, ihre kollektive Macht in Verhandlungen über ausländische Direktinvestitionen zu nutzen und verkompliziert die Formulierung einer gemeinsamen Politik zu ausländischen Direktinvestitionen.“

Auch ohne diesen blinden Fleck gegenüber den USA – hier reden wir von einem weiteren Aspekt der Außenpolitik, den sich die EU aneignen will. Welche Konsequenzen es hat, derartige Kompetenzen abzugeben, dürften eigentlich die Folgen der Sanktionspolitik zu Genüge demonstriert haben. Wobei man sich im Zusammenhang mit der EU auch die Frage stellt, ob da nicht schlicht eine Konkurrenz um eventuelle freundliche Gaben am Werk ist; schließlich hat die EU-Kommission bereits hinlänglich bewiesen, Korruption weniger zu bekämpfen als zu zentralisieren.

Wie wenig die Analyse (an der, wie die Danksagung belegt, so ziemlich jeder größere Konzern in der EU beteiligt war), auf tatsächliche Kenntnisse über die Hintergründe wirtschaftlicher Prozesse zurückgreifen kann, bestätigt folgende Beschwerde: „Europa tritt in die erste Phase in der modernen Geschichte ein, in der das Wachstum des GDP nicht durch ein anhaltendes Nettowachstum der Erwerbsbevölkerung gestützt wird.“

Bevölkerungswachstum ist nicht notwendigerweise eine Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum; Innovationsprozesse werden historisch eher durch einen Mangel an Arbeitskräften ausgelöst. Das klassische Beispiel hierfür ist die Entstehung des Fließbands. Es wurde im Schlachthof von Chicago erfunden, weil nicht genug Arbeitskräfte gefunden werden konnten. Tatsächlich beruhte der Vorsprung, den die Vereinigten Staaten bei industriellen Verfahren in bestimmten Bereichen besaßen, genau auf diesem Faktor, während man andererseits durchaus berechtigt davon ausgehen kann, dass ein Wachstum der Erwerbsbevölkerung durch Migration gleich aus zwei Gründen eher innovationsfeindlich ist – zum einen, weil damit der Druck zur technologischen Fortentwicklung vermindert wird, und zum anderen, weil der dadurch ausgelöste Druck auf die Löhne die potentielle Nachfrage verringert.

Die EU, so der Bericht, könne eben durch ihre Fragmentierung nicht mit der Förderung für Forschung und Entwicklung mithalten, wie sie die USA liefern könnten: „In den USA findet der größte Teil der öffentlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf Bundesebene statt. In der EU erreichen die Ausgaben der Regierungen zwar bezogen auf den Anteil am GDP eine ähnliche Höhe wie in den USA, aber nur ein Zehntel davon findet auf der Ebene der EU statt, trotz des großen Ausstrahlungseffektes öffentlicher Investitionen in Forschung und Entwicklung auf den privaten Sektor.“

Hier sind gleich zwei Kernaussagen enthalten. Die erste lautet, die EU-Bürokratie sieht sich als Gegenstück zur US-amerikanischen Bundesregierung. Da möchte man gleich zum Texaner werden. Die zweite behauptet, ohne Beleg, es hätte einen qualitativen Vorteil, wenn diese staatlichen Mittel über die EU verteilt würden statt über die Nationalstaaten.

Eines der wichtigsten Argumente ist die Größenordnung. Es käme eben nicht genug Geld auf einem Haufen zusammen, und die nach wie vor bestehenden Unterschiede zwischen den nationalen Märkten würde es unnötig erschweren, dass neue Unternehmen wirklich groß werden könnten.

Nun, sicher, abgesehen von den unzähligen unterschiedlichen Regelungen gibt es eben auch materielle Unterschiede in den Konsumgewohnheiten, und die letztlich nicht unerhebliche Tatsache, dass nach wie vor verschiedene Sprachen gesprochen werden. Aber das, was heute einen einheitlichen Markt China bildet, entstand im Zeitraum von Jahrtausenden, während der einheitliche Markt USA das Produkt einer Siedlerkolonisation ist, die das zuvor vorhandene Unterschiedliche schlicht weitgehend ausrottete und durch eine anglo-germanische Mischkultur ersetzte.

Nachdem die EU bekanntlich Zwänge so liebt: auf welche Weise sollen dann die europäischen Völker zu einer einheitlichen Sprache genötigt werden? Schließlich sprechen wir hier nicht von einer Lingua Franca, die im Handel oder der Wissenschaft genutzt wird, diese Rolle erfüllten historisch bereits mehrere Sprachen. Aber für den einheitlichen Markt, der vorzuschweben scheint, müssten sämtliche bestehenden Unterschiede planiert werden, tief in die Bevölkerung hinein. Ist dann womöglich die bizarre Sprachpolitik der baltischen Staaten ein Probelauf?

Europa müsse, heißt es, unbedingt im Bereich der Künstlichen Intelligenz mitspielen. Noch ein Beispiel dafür, wie wenig Bewusstsein für die materiellen Voraussetzungen vorhanden ist: „Vor allem wegen der erforderlichen Rechnerleistung wird geschätzt, dass die Kosten für die Ausbildung eines fortgeschrittenen KI-Modells in den letzten acht Jahren sich jährlich verdoppelt bis verdreifacht haben, was nahelegt, dass die Ausbildung von KI-Systemen der nächsten Generation bald 1 Milliarde US-Dollar kosten und bis Ende des Jahrzehnts 10 Milliarden US-Dollar erreichen könnte. Gleichzeitig wird der Einsatz von KI schnellere und sicherere Verbindungen mit geringeren Wartezeiten erfordern. Die EU bleibt aber hinter ihrem Ziel der Digitalen Dekade für Glasfaser- und 5G-Einsatz für 2030 zurück. Die Investitionen, die erforderlich sind, EU-Netzwerke zu unterstützen, werden auf etwa 200 Milliarden Euro geschätzt, um eine volle Abdeckung im Gigabit-Bereich und mit 5G in der ganzen EU zu erreichen. Aber die Pro-Kopf-Investitionen in Europa liegen deutlich niedriger als in anderen größeren Volkswirtschaften.“

Da ist die erste Randbemerkung, die einem durch den Kopf schießt, dass man für die Entwicklung von KI-Systemen eines nicht gebrauchen kann – unzuverlässige und teure Stromversorgung. Das zweite Problem: die tatsächliche Arbeit, diese gigantischen Rechner mit Informationen zu füttern, übernehmen überwiegend Arbeitskräfte in Indien. Was für die USA funktioniert, weil beide Enden der Leitung Englisch sprechen. Deshalb war es auch möglich, alle möglichen Hotlines dorthin zu verlagern. Selbst wenn man derartige Systeme auf europäischer Ebene entwickeln wollte, das erste zu bewältigende Problem heißt Sprachvielfalt. Das zweite nennt sich „Energiewende“ oder „Dekarbonisierung“; etwas, das auch dieser Bericht propagiert, aber das leider ganz und gar nicht mit den Fantasien über künstliche Intelligenz vereinbar ist.

„Es ist zu spät für die EU, es zu versuchen und systematische Herausforderer für die größeren Cloud-Dienste der USA zu entwickeln; die Investitionen dafür sind zu groß, und sie würden Ressourcen von Sektoren und Unternehmen abziehen, in denen die Innovationsaussichten der EU besser sind.“

Wenn man denn schon meint, mit den USA und China konkurrieren zu müssen, und in diesem Zusammenhang allerlei Sicherheitsanforderungen etwa an Rohstofflieferungen stellt, dann müsste man auf jeden Fall die gleichen Sicherheitsanforderungen im Datenbereich stellen. Was bedeutet: Cloudspeicher in den USA sind ein fundamentales Sicherheitsrisiko. Was sie tatsächlich sind. Man muss nur einmal betrachten, was Google mit den Daten treibt, die auf den verschiedensten Wegen anfallen.

Diese Frage ist alles andere als nebensächlich, denn gleichzeitig fordert dieser Bericht, beispielsweise die Digitalisierung sämtlicher Gesundheitsdaten voranzutreiben, und das auf einer europaweit einheitlichen Basis. Vor allem, um diese Datenquelle nutzen zu können. Allerdings, nachdem die Cloudspeicher eben nicht heimisch sind, würde die einheitliche Digitalisierung nur bedeuten, all diese Daten ebenso einheitlich aus der Hand zu geben. Wie war das noch mal mit der Konkurrenz?

Nun, das macht nichts, dem macht die Dekarbonisierung sowieso den Garaus. Schließlich ist „die Ausbildung und der Betrieb von KI-Modellen und der Betrieb von Datenzentren sehr energieaufwändig. Datenzentren stehen derzeit für 2,7 Prozent des Stromverbrauchs in der EU, aber bis 2030 soll ihr Verbrauch um 28 Prozent zunehmen.“ Nebenbei, das Land mit dem absolut höchsten Stromverbrauch für die Datenverarbeitung ist Deutschland, also gerade das Land, dessen Versorgungssicherheit am stärksten gefährdet ist.

Wobei, logische Brüche prägen die gesamte Argumentation. Die Diagnosen stimmen, aber nicht die Therapievorschläge: „Während energieintensive Industrien in anderen Regionen weder die gleichen Dekarbonisierungsziele erfüllen müssen noch ähnliche Investitionen erfordern, profitieren sie von großzügigerer staatlicher Unterstützung. China beispielsweise sorgt für mehr als 90 Prozent der globalen Subventionen für den Aluminium-Sektor in Höhe von 70 Milliarden US-Dollar, wie auch für große Subventionen für Stahl.“

Was bedeutet es nun, wenn diese „Dekarbonisierungsziele“, die von der EU verhängt wurden, sich als Wettbewerbsnachteil erweisen, und dann die gleiche EU als Folge daraus fordert, zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt zu bekommen, um diese Wettbewerbsnachteile auszugleichen? Auf der einen Seite wird getrickst, um einen zusätzlichen Bedarf für öffentliche Zuschüsse zu schaffen (ein Schachzug, der im Sektor der Erneuerbaren Energien dominiert), auf der anderen die Forderung erhoben, das müsse aber über die EU geschehen und nicht über die Nationalstaaten…

Man könnte fast auf den Gedanken kommen, dieser Zugriff auf die staatlichen Budgets sei der wirkliche Hintergrund für das ganze Dekarbonisierungstheater, schließlich könnte man besagten Wettbewerbsnachteil wörtlich mit einem Federstrich beseitigen. Ein erweitertes Haushaltsrecht ohne Haushaltskontrolle, ausgeübt von einer der undemokratischsten und korruptesten Exekutiven in der europäischen Geschichte, das ist wahrlich, was das Herz begehrt.

Übrigens findet sich im ganzen Text nichts über eine Entwicklung des Binnenmarktes. Es wird zwar festgestellt, dass die gesamte EU anteilig weit mehr exportiert als die USA oder China, und es wird von Vereinheitlichung des Marktes geschrieben, aber dass Innovation und Wachstum auch etwas mit Binnenkonsum zu tun haben könnten, und die Frage, was sich die Durchschnittsbevölkerung leisten kann, durchaus eine Rolle spielt, scheint völlig unbekannt – außer, man will Bemerkungen zur Demografie loswerden, die sich dann wieder in die Formulierung umsetzen, die EU bräuchte Zuwanderung.

Der Aberglauben, dass so etwas wie Google oder Facebook nicht in Europa entstanden wären, weil hier nicht genug Geld zur Verfügung stünde, ist Begründung dafür, warum unbedingt ein Zugriff auf die Pensionskassen erfolgen müsse. Genauer, die in mehreren europäischen Ländern vorhandenen Pensionsfonds sollen über die EU für Investitionen genutzt werden (und, ein weiterer Wunsch, die bisherigen steuerfinanzierten Systeme sollen in kapitalgestützte überführt werden).

Das ist ziemlich genau das Gegenteil dessen, was die Finanzmarktkrise 2008 ff. gelehrt hat, in deren Verlauf mehrere große Pensionsfonds, z.B. jener der Lehrer im US-Bundesstaat Illinois, den Weg alles Irdischen nahmen. Aber der Draghi-Bericht klagt darüber, dass so viel Geld in Europa ungenutzt gespart würde, das unbedingt in die Kapitalmärkte geschaufelt werden müsse. 2009 ließ man in Irland die Rennpferde auf den Wiesen verhungern, und der internationale Seehandel stand drei Monate lang fast völlig still. Seitdem wurden immer wieder gigantische Mittel aufgewandt, um das Finanzsystem zu stützen, wenn auch meist verdeckt, aber im Grunde weiß alle Welt, dass das irgendwann demnächst platzen muss, und der wirkliche Absturz seit 2008 nur hinausgezögert wurde. Nur die Autoren dieses Berichts scheinen das nicht zu wissen, oder sie tun zumindest, als wüssten sie das nicht.

Der unterhaltsamste Widerspruch des Berichts mit der Wirklichkeit ist übrigens die Forderung, gerade kleine und mittlere Unternehmen dürften nicht mit Bürokratie überfordert werden. Das muss EU-Humor sein. Stichwort Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz; da verrät der Name bereits die bürokratische Qual, die sich dahinter verbirgt. Diese Forderung seitens der EU, das ist, wie wenn Al Capone aufruft, die Mafia zu bekämpfen. Wenn eines bei allem garantiert ist, an dem EU steht, ist es eine wild wuchernde Schlacht aus Berichten und Anträgen und Kontrolle.

Wie man es dreht und wendet – das Ziel dieses Berichts ist es – und das wurde teils auch zutreffend berichtet – einen bedeutenden Schritt auf dem Weg des EU-Staats voranzukommen. Zu diesem Zweck sollen die wirtschaftspolitischen Kompetenzen an die EU übergehen, europäische Schuldverschreibungen ausgegeben, die wirtschaftlichen Reserven der Bevölkerungen abgeschöpft oder beliehen und Entscheidungen innerhalb der EU in den meisten Bereichen auf Mehrheitsprinzip umgestellt werden.

Doch so groß, wie dieser Bericht tut, in seiner vermeintlichen Darstellung einer Industriestrategie für Europa, so schwach ist seine Argumentation, und so irreal ist es, auf diese Weise das vermeintlich angestrebte Ziel zu erreichen. Das sollte man wissen, wenn er in den kommenden Jahren immer wieder auftauchen und als Referenz angeführt werden wird. Übrig bleibt dann wirklich nur das, was angeblich die logische Schlussfolgerung sein soll, die Ausweitung der Brüsseler Macht.

Anmerkungen:

Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn wurde unter dem Titel „EU: Griff nach der Staatsmacht – Teil 2“ am 17.11.2024 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.

Siehe auch den Beitrag

im WELTEXPRESS.

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