Vitaminstoß für eine abgehängte Region – Das Lausitz Festival offeriert sich als europäisches Kunstfestival

Die Rakotzbrücke, auch auch Teufelsbrücke genannt. Quelle: Pixabay, Foto:Ö Herbert Aust

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Die Lausitz ist ein reizvoller Landstrich zwischen Neiße und Elbe mit dem einmaligen Spreewald, dem Oberlausitzer Gebirge und der neuenststehenden Seenplatte in den alten Tagebaulöchern. Einst das energetische Herz der DDR, hat sie nach dem Abriss der Kraftwerke Hagenwerder, Lübbenau, Vetschau, Trattendorf und Hirschfelde, der Stillegung von Tagebauen, der Einstellung des Betriebs von Brikettfabrigen, Maschinenbaubetrieben, Chemiewerken sowie Zuliefer- und Reparaturbetrieben mit einer Krise zu kämpfen, die Zehntausende den Arbeitsplatz kostete und zur Abwanderung Hunderttausender Menschen führte. Ganz zu schweigen von der Zerstörung von Infrastruktur (zum Beispiel Abriss von Wohnblocks). Dietmar Woidke (SPD), Ministerpräsident des Landes Brandenburg, nennt es »vergangene und laufende Strukturumbrüche», die ihn und seine Landesregierung unendliche Mühe kosten,Wertvolles zu erhalten, neue Industrien anzusiedeln, um den »abgewickelten» Arbeitern in Industie und Bergbau neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Sorge teilt er mit dem Sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU). Sie müssen wieder Leben in die Industriestandorte bringen: Arbeit, Wohnungen, Kultur. Eine ihrer Bemühungen ist das Lausitz Festival, das vom 25. August bis zum 10. September zum vierten Male stattfindet. So ist es kein Wunder, dass die Ministerpräsidenten beider Länder selbst an einer Pressekonferenz zur Vorstellung des Programms des diesjährigen Festivals teilnahmen. Um, wie zum Beispiel Kretzschmer, zu betonen, dass es ihnen um die Stiftung von Identität in der Region geht – um mehr Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen der Menschen.

Hochinteressante Programme

Das Festival besteht aus hochinteressanten Programmen in den Sparten Konzert, Theater, Tanz, Musiktheater, Jazz, Literatur und Bildende Kunst, breit gestreut von Bad Muskau, Görlitz, Bautzen, Zittau, Herrnhut über Cottbus, Cunewalde, Domsdorf, Doberlug-Kirchhain bis nach Hoyerswerda, Senftenberg, Weißwasser und Finsterwalde. Spielorte sind Theater, Dorfkirchen, stillgelegte Industrieanlagen, Museen, Kinos und Schlösser.
Der Untertitel »Europäisches Kunstfestival» scheint hoch gegriffen, aber den Veranstaltern ist es gelungen, berühmte Künstler zu verpfichten, wie Marha Argerich, Klavier, mit Stephane Degout, Bariton, Piotr Anderszewski, Klavier, Maxim Wengerow, Violine, mit Polina Osetinskaja, Klavier, die Dresdner Philharmonie, das Vokalensemble Roomful of Teeth, das Orchestra Jazz de Matosinhos, Kurt Rosenwinkel, Gitarre, Haggai Cohen-Milo, Komponist, und andere. Literarische Kostbarkeiten bieten der Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Brigitte Reimann, gelesen von Fanny Staffa und Christine Hoppe, von Stefan Zweig »Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers», in Szene gesetzt von Schauspielern des Gerhart-Hauptmann-Theaters Zittau, oder Erzählungen der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, gelesen von Claudia Michelsen.
Eröffnet wird das Festival heute mit einem Konzert in der Flugzeughalle in Cottbus. In einer Weltpremiere werden unter Leitung von Sylvan Cambreling, gespielt von der Dresdner Philharmonie, die Werke »Quattro pezzi sacri» von Giuseppe Verdi und die »Ekklesiastische Aktion» von Bernd Alois Zimmermann verknüpft. Interessant kann eine Bearbeitung von Shakespeares Stück »Der Kaufmann von Venedig» mit dem Titel »Ein Pfund Fleisch oder der Wert der Dinge» von Malte Ubenauf werden, die am 26. August im Telux-Werk Weißwasser Premiere haben wird.

Eine Wortneuschöpfung und Wertentscheidungen

Die Veranstalter haben zweifellos ein anspruchsvolles Programm zusammengestellt, das europäisch geprägt sein soll. Dazu wurde 2023 eigens eine GmbH gegründet, die Lausitz Festival GmbH. Sie wurde sowohl von den beiden Landesregierungen als auch von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Cladia Roth (Bündnis 90 / Die Grünen) großzügig mit Geld ausgestattet. Somit können Gagen für Spitzenkünstler gezahlt werden. Die Einwohner der Region können überzeugt sein, dass für sie das Beste aufgeboten wurde. Dabei ist jedoch fraglich, ob die Wortschöpfung »Hereinforderung» als Veranstaltungstitel für das Publikum zugkräftig ist. Das klingt mehr nach Leistungsgesellschaft denn nach Einladung zum Kunstgenuss. Auch die Eröffnungsveranstaltung trägt den hochgestochenen Titel »Eröffnungsaktion». (Die Dresdner Philharmonie nennt es in ihrer Pressemitteilung einfach Eröffnungskonzert). Die »Hereinforderung» folgt hehren Gedanken, die der Intendant Daniel Kühnel wie folgt beschreibt:
»Das Inspirationswort >Hereinforderung< ist eine Wortneuschöpfung, die zugleich irritierend und verspielt ist. So streng diese Forderung auch daherkommen oder klingen mag – ihr Lohn sind nicht Verzicht und Mühsal allein. >Hereinforderung> ist keine Selbstaufgabe, bietet auch nicht einfach nur Partizipation, sondern verhandelt die Präsenz, das Dasein, die Allgegenwärtigkeit der Forderung, sich auf das Nicht-Eigene einzulassen als Bedingung für etwas ganz Wunderbares: das Bei-sich-selbst-Sein im Anderen, ohne das wir nie wirklich frei sein können. Wir nennen die Entscheidung für den Eintritt in das Nicht-Eigene auch Wertentscheidungen. Das Lausitz Festival 2023 will nicht einzelne Werte oder Ideale verhandeln oder gegeneinander spielen lassen! Es will vielmehr an die alte Frage erinnern: Sind Ideale lebbar? Oder sind sie praxisfern und lebensfremd? Die >Hereinforderung> wird Türen aufstoßen und Räume öffnen, die dann gemeinsam zu entdecken sind» Nun wüsste der Zuschauer, welche Prüfung er zu bestehen hat. Aber er liest ja die Pressemitteilungen nicht und kann unbefangen eintreten.

Leerstellen

Es fällt auf, wie schwach Musikschulen und Musikhochschulen am Programm beteiligt sind. Auch die sorbische Kultur ist nur mit einer Veranstaltung vertreten: Das Streichquartett Symply Quartet wird erstmals Werke sorbischer Komponisten wie Paul Nagel und Bjarnat Krawc spielen. Verdienstvoll, doch eben die Ausnahme. Für das erwünschte Bewusstmachen der Identität der Lausitzer könnte zum Beispiel ein Lausitzer Schulorchestertreffen in der Jugend und in der Bevölkerung ein weites Echo finden. Oder ein Chortreffen. Oder Volkstheater wie in Netzeband in der Prignitz könnten Jugendliche aus der Umgebung ihre Spiellust entfalten lassen. Im Gegensatz dazu steht das Produkt Musiktanztheater »Gletscher», wo laut Pressematerial Musiker:innen, Sänger:innen und Tänzer:innen »aus der ganzen Welt» »über Monate» in der ehemaligen Telux-Fabrik Weißwasser »ihr Stück vor Ort entwickeln und dem Puls der Region nachspüren». »Zugleich erspielen die Darsteller:innen eine neue Form der Wertschöpfung. Aus der Freiheit von Veränderung wird die Freiheit zur Veränderung». Eine kühne These. Nach der Werttheorie findet Wertschöpfung in der materiellen Produktion statt. Nun ja, man kann künstlerische Befriedigung alsWert empfinden. Ob der Aufwand marktfähig wäre, wird »auf den Brettern, die die Welt bedeuten» eben anders »geschöpft» als einst im Tagebau.

Eine Schlüsselposition

Dem Programm kann das Bemühen um Breite und Vielfalt zugestanden werden. Doch es fragt sich, ob dem Wunsch, den Bewohnern der Lausitz ein Gefühl der engen Bindung an ihre Heimat zu vermitteln, mit einem dreitägigen Philosophischen Symposium »Lausitz Labor» entsprochen wird, in welchem »international ausgewiesene Spezialisten aus den Bereichen Philosophie, Soziologie, Recht, Literatur, Kunst- und Kulturwissenschaften anhand einzelner Aspekte ausgewählter Kunstwerke … Themenkomplexe verhandel(n) und dabei die Wechselwirkung von Kunst und Gesellschaft reflektiere(n)». Eine großzügige Gabe an die Wissenschaft. Sie mutet an wie das Lieblingsthema eines Institutsdirektors, das er bei seiner Uni finanziell nicht unterbringen konnte.

Dem Lausitz Festival ist ein voller Erfolg zu wünschen. Es bleibt jedoch, darüber nachzudenken, ob seine Ausrichtung auf eine »europäische» Dimension dem Anliegen dient, die Menschen der Lausitz in ihrer Identität zu bestärken. Oder ob eine Orientierung auf die reichen kulturellen Angebote aus der Region und aus beiden Bundesländern sowie die Ermutigung zu einer eigenen kulturellen Betätigung (man denke an die Pflege der sorbischen Kultur) das Festival einer Neubelebung der Region näher bringen könnte. Gastspiele bedeutender Künstler gehören dazu. Es gilt, einen Mittelweg zwischen Größenwahn und Volkskultur zu finden. Das erfordert eine gute, zweckgerichtete Finanzierung der Gemeinden. Neue kulturelle Impulse brauchen vor allem Gemeinden mit einer aktiven Neonaziszene wie in Burg im Spreewald, wo antifaschistische Lehrer gemobbt wurden. Um Gegenmaßnahmen gegen neonazistische Vorfälle will sich sogar das Bundesfamilienministerium kümmern.
Initiativen für die Verbreiterung der kulturellen Basis des Lausitz Festivals gibt es. Die Intendantin der Dresdner Philharmonie, Frauke Roth, hat in einer Presseinformation vom 22. August bereits versprochen, »mit großer Offenheit mit unseren Angeboten in die Region zu gehen. Ereignisse wie das Lausitz Festival haben für mich eine Schlüsselposition, wenn es darum geht, kulturelle Bildung und Dialog zu ermöglichen, wo sich Menschen gerade abgehängt fühlen und große Veränderungen sie besonders belasten. Da sehe ich ganz klar einen Auftrag, an dem wir unbedingt weiterarbeiten wollen».

Anmerkung:

Eine kürzere Fassung des Beitrags erschien am 25.8.2023 in der Zeitung „junge Welt“.

Vorheriger ArtikelFrage: Ist der Soze Olaf Scholz (SPD) ein Lügner und als Kanzler „nicht mehr tragbar“?
Nächster Artikel„Die Durststrecke der deutschen Wirtschaft verlängert sich“ – Christen und Sozen, Olivgrüne und Besserverdienende regieren und ruinieren die BRD weiter