Damit ist das literarische Feld abgesteckt, das Arrigo Boito sich aus Faust I , der Walpurgisnacht, und dem Faust II, Fausts Tod als Librettist zusammengestrickt hatte, um es als Komponist in einer Oper musikalisch zu bewältigen, die erst einmal wegen Überlänge nicht akzeptiert wurde, nun aber in der Form, in der sie im März 1868 uraufgeführt, mit einem Prolog, vier Akten und einem Epilog operntauglich wurde und als Handlungsort angibt: „Im Himmel, in Deutschland und in Griechenland, um 1500“. In Frankfurt nun zeigte sich, daß, wenn man fausterfahren ist, das Episodenhafte der Handlung – Ostersonntag, Pakt, Margherita, Walpurgisnacht, Tod, klassische Walpurgisnacht, Hinwendung Fausts zur Bibel und Rettung seiner Seele – nicht stört und man den ganzen Faust imaginiert, von dem man hier Teilstücke sieht und hört, immer eingedenk, daß die Oper nicht ’Faust`, sondern ’Mefistofele` heißt. Diesen hatte Askar Abdrazakov darzustellen, der erst einmal von Gestalt und Spiel eine deutliche Alternative zum Faust des Gustavo Porta abgab. Denn dessen Faust war tatsächlich und dann auch noch musikalisch der tenorale Zauderer und lebensuntüchtige Geselle, dem gegenüber Mefistofele zum Vitalitätsbolzen wird, der dafür aber lyrisch gar zu schöne Partien singen darf und dies auch tat. Von diesen männlichen Gegensätze und ihrer Verkörperung auf der Bühne lebt auch die Oper, allerdings hätten wir uns den gut dominanten russischen Baß noch teuflischer gewünscht.
Julie Makerov verkörperte das Gretchen und in Gestalt und Stimme tat sie das so, daß das Publikum ihr – insbesondere bei „L’altra notte in fondo al mare”¦“- an den Lippen hing, denn obwohl es doch ’nur` um eine Übernahme der Partie ging, glaubte man einer Originalversion zuzusehen und zu hören. Auch Tanja Ariane Baumgartner als vergeblich sorgende Martha und Sophie Angebault als verführerische Helena und Yvonne Hettegger als Pantalis machten ihre Sache sehr gut und die Intensität des Spiels steigerte sich von Akt zu Akt, so daß mit einem sehr großen Abschlußapplaus gedankt und auch der vorzügliche Chor, eben auch der Kinderchor – Leitung Michael Clark -, hierin miteinbeschlossen wurde. Das Orchester spielte unter der Leitung von Carlo Montanaro sehr solide. Wir fanden das szenische Gerüst eigentlich ausreichend und viele Einfälle der Regie, die skurril und witzig waren, muteten uns dennoch insgesamt überflüssig an, weil der Operninhalt und die Musik ihre Stärke aus der gespielten und gesungenen Gefühlsintensität gewinnen und nicht aus dem Spektakel auf der Bühne.
Eine weitere Wiederaufnahme wird die Frankfurter Oper am 24. Januar mit dem Zweiakter „Lucia di Lammermoor“ von Donizetti (1797-1848) bringen. Auch diese wird auf Italienisch gesungen, wobei die deutschen Übertitel den Blick auf die Bühne nicht tangieren, was wichtig ist, wenn man nicht mitlesen mag. Erik Nielsen wird die musikalische Leitung der Oper haben, die auf der Inszenierung von Mathews Jocelyn basiert, allerdings mit rundherum neuer Besetzung. Simona Saturová übernimmt die Titelpartie der Lucia, später Brenda Rae. Beiden werden die höchsten Verzierungen abverlangt, die unter dem Stichwort ’Belcanto` in die Operngeschichte eingegangen sind. Der junge Tenor Dimitri Pittas singt den von Lucia geliebten Edgardo di Ravenswood, später Joseph Calleja, Aris Argiris stellt den fiesen Bruder Enrico Ashton dar und Peter Marsh gibt den Lord Arturo Bucklaw.
Die Premiere der Frankfurter Lucia fand am 26. Oktober 2008 statt und alle wunderten sich, wie das aus dem wüsten Stoff um Zwangsehe, Wahn, Mord und Selbstmord gedrechselte Libretto unter den Händen des Regisseurs psychologische Plausibilität erlangte und die Schönsingerei sozusagen als Bonbon dazukam, aber nicht mehr der einzige Pluspunkt der Operndarbietung blieb. Dazu gehört schon einiges, denn die Ende des 16. Jahrhunderts in Schottland spielende Handlung im ’Dramma tragico` wird in der Bühnenfassung arg zerzaust, was sich im Vorbild des schottischen Dichters Walter Scott (1771-1832) noch als geschlossene Schauerromantik liest.
Kurzgesagt handelt die 1835 mit großem Erfolg uraufgeführte Oper davon, daß Lucia ausgerechnet Edgardo, Todfeind ihres Bruders Enrico liebt. Dieser jedoch sieht seine Schwester glänzend mit Arturo verheiratet, einem Mann von großem Einfluß, der auch ihn retten kann. An die angebliche und von Enrico gezielt inszenierte Untreue des Geliebten glaubt dummerweise die Schwester und unterschriebt daraufhin den Heiratsvertrag mit dem ungeliebten Arturo, was – Ehre ist Ehre – den hinzukommenden Edgardo dazu bringt, die geliebte Lucia frei zu geben. Diese wird darob wahnsinnig, ersticht in der Hochzeitsnacht den Bräutigam, woraufhin ihr Herz bricht, was zwangsläufig den davon erfahrenden Edgardo zwingt, Hand an sich zu legen. Am Schluß sind die Guten tot. Und das alles wäre nicht erträglich, hätte nicht Donizetti diese innige Musik geschrieben, wo es einem auf einen toten oder mehrere nicht mehr draufankommt, so lange die Wohllaute andauern.
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Weitere Vorstellungen des Mefistofele: am 22., 30. Januar, 5., 12. Februar 2010 (zum letzten Mal).
Vorstellungen der Lucia di Lammermoor: am 24. (Wiederaufnahme), 28., 31. Januar, 7., 13., 20., 28. Februar, 1., 8., 10., 13., 16. (15.30 Uhr; mit kostenloser Kinderbetreuung) Mai 2010