Man weiß das nicht automatisch. Aber man weiß es, wenn man die modernen Verfahren wie die Radiokarbonmethode anwendet, die auf alles Organische reagiert und 14 C heißt. Ursache des Verfahrens ist der radioaktive Zerfall des Kohlenstoffisotops 14 C, der sich in abgestorbenen Dingen (und Lebewesen) in einem bestimmten Verhältnis verringert gegenüber seiner noch lebendigen Umgebung. Aus dieser Differenz wiederum kann man das „Sterben“ des Gegenstandes oder des Lebewesens errechnen. Anhand von Pflanzensamen war schnell klar, daß es tatsächlich um die Lutherzeit geht und Münzen – die ja wegen des Aufdrucks von Herrschern meist die besten Datierungsschlüssel sind – und Keramikscherben, die man auch am Stil datieren kann, haben dies dann bestätigt. Vor allem wurde auch eine Verhaltenseigenschaft bestätigt, daß man schon damals alles auf die Gass` warf, was einem nicht mehr genehm war. Und zwar kunterdiebunter und eben nicht nur Abfall, sondern auch Gegenstände, die eigentlich noch in Ordnung waren.
Die Archäologen, die sich an die Ausgrabungen machten, fanden zwei, sich völlig ausschließende Beweislagen vor: Die Grube war innerhalb einer Woche gefüllt worden. Die Reste, der Abfall, mit dem sie gefüllt wurde, umschloß aber einen Zeitraum von über 10 Jahren: Speisereste, Asche, kaputtes Geschirr, Geräte- und Kleiderteile und mehr. Die Erklärungen, die die Forscher für diese Widersprüche fanden, klingen einleuchtend. Schon viele Jahre mußten diese Gegenstände auf einen Kompost geworfen worden sein und wurden dann, als der Bauschacht funktionslos wurde, allesamt zusammen mit dem neuem Müll hineingekippt. Völlig durcheinander natürlich und oft waren die ältesten Spuren dann ganz oben.
Was daran so interessant ist und weshalb es unser Lutherbild korrigiert, hat nun einfach mit der Selbstsicht und der Selbstauskunft von Martin Luther zu tun, der sein eigener Marketingchef war. Sehr erfolgreich dazu. Denn es klang gut und volkstümlich, wenn er, der Papstabtrünnige und Pfründe- und Abgabengegner von sich sagte: „Ich bekenne, daß ich der Sohn eines Mauern aus Möhra bei Eisenach bin“, und sogar behauptete, er habe als Hauer unter der Erde gearbeitet, was er alles in den Tischreden, die ein anderer aufschrieb, von sich gab. Es stimmt nur nicht. Diese archäologischen Befunde beweisen, daß Luther aus gutsituiertem Elternhaus stammt, sogar der ländlichen Oberschicht zugehörte, die Familie viele Höfe besaß, die Vatersfamilie mit Kupfer wohlhabend wurde, sodaß sein Vater eine Eisenacher Patriziertochter heiraten konnte.
Dem materiellen und geistigen Leben Luthers führt diese spannende und unglaublich umfangreiche Ausstellung nun in den Stationen seines Lebensweges und seines Wohnens entlang, denn auch in anderen seiner Wohnhäuser fand man archäologische Spuren, die alles in allem ein fast lückenloses Bild der äußeren und inneren Befindlichkeiten von Luther ergeben. Äußerlich durch das Auffinden von Gegenständen, innerlich durch den Rückbezug auf seine Schriften und Reden, wobei die Sprüche vom Museum wunderbar herausgestellt sind und direkt auf die Ausstellung und die Haushaltsfunde bezogen, wenn es heißt: „In häuslichen Dingen füge ich mich Käthe. Im Übrigen regiert mich der Heilige Geist“ oder „Für die Toten Wein, für die Lebendigen Wasser: Das ist eine Vorschrift für Fische.“
Wenn Sie also noch irgendeine Frage an oder zu Luther haben, müssen Sie auf jeden Fall diese Ausstellung sehen, aber gleichzeitig geht diese Ausstellung über Luther weit hinaus. Er ist sozusagen nur das Exempel, an dem wir erkennen, was und wie die Lebensgrundlage zu Beginn des 16 Jahrhundert in dieser Region, dem heutigen Thüringen, Richtung Sachsen-Anhalt, Richtung Sachsen war. Und darum sind wir auch so begeistert. Die Ausstellung, die vom Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle und dem Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt konzipiert wurde und nun – sind wir froh! – nach Mannheim in die Reiss-Engelhorn-Museen gewandert ist, läßt keinen Lebensbereich aus, sondern gibt uns umfassend Auskunft – eben anhand der Fundstücke, zu denen Vergleichsstücke oder unzerstörte Gegenstände als Beispiele gehören – ,über die persönlichen Lebensbereiche, aber auch über gesellschaftliche Abläufe, über Werkstätten, über die Arbeitsverhältnisse, über das Lernen, über das Gesundheitswesen, Entbindung und Aufzucht von Kindern, über die Formen der Religiosität, was man mittags am liebsten auf dem Tisch hatte, wie man sich im Dunkeln Licht macht, es im Sommer kälter und im Winter wärmer machte, eine unendliche Fülle von Erkenntnissen ist mit dem reinen Betrachten der hinter Glas ausgestellten Gegenstände verbunden, die uns innerlich reicher macht, als wir vor dem Besuch gewesen waren.
Es ist auch etwas wie der Atem der Geschichte, den man spürt und das hat nun wieder mit Luther zu tun, denn dessen Mönchszeit, seine Ehe mit Katharina von Bora, der Ablaßstreit und die angebliche Thesenanbringung in Wittenberg, seine theologischen Dispute, seine Predigten, alle das wird aufgeführt, in Wort und Bild und Werk ausgestellt, aber eben durch die materielle Grundlage der Gegenstände gewissermaßen irdischer, als es eine Lehre oder ein Glauben sein könnte. Und daß man einem solchen Mann eben auch mit Lebenslügen erwischen kann, macht einen nicht unbeträchtlichen Spaß an der Ausstellung an, denn Moralapostel Martin Luther hat einst auch gesagt: „Eine Lüge ist wie ein Schneeball – je länger man ihn wälzt, um so größer wird er.“ Der Schneeball um die Herkunft und noch andere kleinere Schneebälle sind durch die Ausstellung geschmolzen, aber Luther bleibt ein großer Mann mit einem starken Eheweib und diese Zeit, der Beginn der Renaissance in Deutschland ist in jeder Hinsicht – theologisch, wissenschaftlich, künstlerisch, in den Änderungen der Lebensgewohnheiten, der sozialen Auseinandersetzungen und so vielem mehr – eine geschichtliche Hochzeit, die man sich in Mannheim gönnen sollte.
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Ausstellung: bis 15. November 2009 in den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim
Katalog: Fundsache Luther. Archäologen auf den Spuren des Reformators, hg. Von Harald Meller, Theiss Verlag 2008, gibt denen ein Fundament, die gerade ob der Fülle der Gegenstände in der Ausstellung in Atemnot gerieten oder manches durcheinander brachten. Zudem wird in einer Folge von klugen Essays das gängige Lutherbild aufgearbeitet, gleichzeitig aber auch die methodischen Hintergründe, wie man zu archäologischen Aussagen kommt, detailliert beschrieben. Insbesondere die Bauforschung, die hier zu kurz kam, nimmt breiten Raum ein. Wer die Ausstellung nicht anschauen kann, dem ist der Katalog genauso viel wert, weil er den Leser mit einer Fülle von Aussagen konfrontiert, bei denen man erst einmal schlucken muß, die aber im Folgenden bewiesen werden. Im Übrigen wird Harald Meller für uns immer der Held der „Scheibe von Nebra“ bleiben, die er auf abenteuerlichem Wege für sein Museum und für uns rettete.
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