Und dennoch leben sie – Nicolas Wadimoffs Dokumentarfilm „Aisheen“ zeigt, was es bedeutet „Still alive in Gaza“ zu sein

 Über Generationen wurden die Olivenbäume von Vater zu Sohn vererbt. Nun wächst nichts mehr auf dem Feld. „Du bist alles, was noch übrig ist.“, sagt der alte Mann auf dem Feld seinem Sohn: „Du und Gott.“ Der Beistand Gottes ist der letzte Halt für die Bewohner des Gaza-Streifens. Es ist eine traurige Verschleierung der Gewissheit, ganz allein zu sein. „Wenn der Wind oder ein Unwetter einen Olivenzweig abgebrochen hat, wurde dein Großvater krank.“, erzählt der Olivenbauer seinem Sohn. Ein unnatürlicher Wind hat nun die Bäume ausgelöscht, der Wind des Krieges. Die Hoffnung, dass er sich jemals legen wird, haben die Menschen fast aufgegeben. Ihr Dasein besteht aus Militärkontrollen, dem oft vergeblichen Anstehen nach Hilfsgütern und Benzin und neuen Angriffen. „Vielleicht wäre es am Besten, alles zurück zu lassen und einfach woanders hin zu gehen.“, sagt ein alter Mann. Viele Ansässige haben wie er alles verloren, weit mehr als ihren Besitz. „Ich erinnere mich an das Blut, den Lärm, den Geruch verbrannten Fleisches.“, berichtet ein Junge. Der Bombenangriff, der ihn verwundete, tötete seinen Cousin, ein anderer Angriff seinen Bruder. Für den kleinen Jungen ist der Bruder ein Märtyrer: „Wenn Gott es will, trete ich in seine Fußstapfen. Ich werde ein Widerstandskämpfer und kämpfe im Namen Gottes.“

„Still alive in Gaza“ ist mehr als ein Dokument über die fatalen Auswirkungen eines niemals zu enden scheinenden militärischen Konflikts. Wadimoff zollt den Betroffenen Respekt, welche inmitten der Ruinen, der Gewalt und des Todes weiterhin zu leben versuchen. „Wir leben mit der Gewissheit, dass eine andere Bombe uns nicht verfehlen wird.“, sagt ein junges Mädchen. „Still alive in Gaza“ – nicht nur existieren, sondern ein Leben haben, ist der Wunsch der Menschen. „Wir haben sogar unsere Träume aufgegeben.“, erzählt ein Jugendlicher: „Ich wollte Arzt werden, um die Menschen zu heilen. In der jetzigen Situation werde ich nicht einmal Tierarzt.“ Trotz der unvermeidlichen Resignation hofften er und seine Freunde weiter auf eine Ausbildung: „Wenn wir keine kriegen, werden wir Mujaheddin und ziehen gegen die Juden in den Krieg und sterben als Märtyrer.“ „Aisheen“ schöpft seine emotionale Eindringlichkeit allein aus den Berichten der Überlebenden und seinen erschütternden Bildern. Manche davon wirken wie düstere Allegorien des allgegenwärtigen Todes. Kinder treten auf einen verwesenden Wal, der am Meeresufer gestrandet ist. Nichts scheint den Bomben zu entgehen. Dennoch haben die Menschen den teils zerstörten Tierpark wieder geöffnet, der Betreiber des Vergnügungsparks lässt seine Karussells reparieren, zwei professionelle Clowns bringen mit Witzen über Bombenlärm eine Grundschulklasse zum Lachen.

Die Szenen kommen ohne Melodramatik aus. Die nüchternen Aufnahmen der Kamera sprechen für sich selbst. Kein Hintergrundkommentar, keine Musik. Einzig der Rap-Song der israelischen Gruppe Darg Team ertönt: „Gaza. A Death Drama.“ Dem Titel des Albums, an welchem die Band arbeitet, ist der Filmtitel entliehen. „Der Tod ist besser als dieses Leben.“, heißt es in einer Szene. Noch hat der Tod nicht gesiegt. „Ich glaube an die Freiheit des Individuums.“, sagt eines der jungen Mitglieder der Band Darg Team, nachdem er in einem Radiointerview für den „westliche“ Stil seiner Musik kritisiert wurde. Darg Team. Der Geist der Menschen ist „Still alive in Gaza“.

Titel: Aisheen – Still alive in Gaza

Berlinale Forum

Land/ Jahr: Frankreich/ Katar/ Schweiz 2010

Genre: Dokumentarfilm

Regie und Buch: Nicolas Wadimoff

Laufzeit: 86 Minuten

Bewertung: ***

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