Eine karge Erzählung ist „Tannöd“ formal. In wenige Seiten kurzen Kapiteln gibt Andrea Maria Schenkel die Berichte der Anwohner gegenüber einem einstigen Ortsbewohner wieder. Der Frager bleibt eine auf der ersten Halbseite umrissene Schattengestalt. Der Aufsehen erregende Familienmord zog ihn in sein Geburtsdorf zurück. Warum er zurückkehrt, ob als Verwandter oder Ermittler, bleibt im Dunkeln, wie der Zweck seiner Fragen. Sollen die Berichte nicht seine Sensationslust befriedigen, dann die der Leser. Für „Tannöd“ wählte Schenkel nicht durchaus kalkuliert eines der mysteriösesten Verbrechen Deutschlands als Vorlage. Beim „Mordfall Hinterkaifeck“ wurde 1922 in der süddeutschen Gemeinde die Familie Gruber samt Magd auf ihrem Einödhof ermordet. Der „Mordfall Hinterkaifeck“ ist bis heute ungeklärt und bleibt angesichts dessen blutrünstiger Natur ein Garant für fortdauerndes Interesse an dem Fall. „Hinterkaifeck“ ist die Hausversion der Manson Family, der Morde Peter Kürtens oder Ed Geins.
Die Aussagen der Anwohner fügen sich puzzleartig zum Bild einer Gemeinde, vereint im kollektiven Wegsehen. Umgebungsbeschreibungen meidet Schenkel. Der suggestive Titel „Tannöd“, viel unheimlicher als das spießige Hinterkaifeck , weckt Bilder unheimlicher Waldeinsamkeit. Eine schwarz-romantische Landschaft, wie von Caspar David Friedrich gemalt, darin nebelumwogen der „Tannöd“-Hof. Ähnliches zeigt auch der Einband des im Verlag Nautilus erschienen Romans. Nur die in süddeutscher Mundart gehaltenen Reden der Dorfbewohner vermitteln Lokalkolorit. Aus der grobe Sprache und den nüchternen Handlungsbeschreibungen vernimmt man Rückständigkeit und Verrohung. Die Gottesfurcht wird zur Bigotterie. Die als Littanei zwischen die Kapitel gestreuten Gebete dienen allerdings mehr dazu, den kurzen Inhalt auf Romanlänge zu strecken, als sozialkritisch zu wirken. Geschickt lässt die Autorin die Spannungskurve bis zur Romanmitte ansteigen. Danach verkümmert die unheimliche Atmosphäre in Schenkels konventioneller Auflösung. Der ungeklärte Mordfall wäre besser ein solcher geblieben und „Tannöd“ die Kurzgeschichte, die sie eigentlich ist. „Tannöd“ ist keine kunstvolle Prosa, wenn auch die naturalistischen Anfangskapitel in diese Richtung weisen.
Schenkels Roman ist gekonnte Unterhaltungsliteratur. Man kann bis hierher gehen, den Roman lesen und vergessen. Oder man blickt tiefer, auf den authentischen Fall und die Fortdauer von Schweigen, Biederkeit und Verdrängung. Es wirft ein ungünstiges Licht auf die Autorin und „Tannöd“, studiert man den Mordfall und ihre Buchversion. Das Totschweigen führt „Tannöd“ fort. Die Auflösung der Morde mündet im unwahrscheinlichen Konstrukt einer Beziehungstat. Eifersucht, eine schöne Frau, eine verdorben Familien, die kriegt, was sie verdient hat. „Dass der Danner nicht in seinem Bett gestorben ist, so richtig wundern tut mich das eigentlich auch nicht.“, fährt die zitierte Bäuerin fort. So richtig verwundert es niemanden im Ort. „Mann soll ja nichts Schlechtes über die Toten sagen. Ich sage nur soviel-“ Soviel wie die anderen. Man habe sie nicht gemocht, die auf „Tannöd“. Danner war der Vater der Kinder seiner Tochter, wusste jeder. Die Magd Marie war „etwas zurückgeblieben…machte, was man ihr sagte…stellte nie Fragen.“
Fragen mag keiner der Anwohner. Man kümmert sich um seine Angelegenheiten, hält „sein Sach“ zusammen. Sonst macht man sich am Ende selbst verdächtig. „Dreck am Stecken haben hier heraußen auch genügend.“ So folgt man dem Beispiel der drei Affen: nichts sehen, nichts hören, (fast) nichts sagen. In der Mordnacht tappen die sündigen Familienmitglieder eines nach dem anderen in den Stadel, wo Gottes Schwert in Form einer Spitzhacke auf sie niedergeht. Den von in „Tannöd“ von der Realität abweichenden Tathergang schildert Schenkel in dem gleichen konventionell klingenden, ungelenken Stil, in welchem sie die Gefühle von Mutter und Tochter auf dem Hof beschreibt. Die Dannerin ist das Klischee der vereinsamten, misshandelten Ehefrau. Aber sie wusste ja, worauf sie sich einließ, schwingt in den Zeilen mit. Ihre missbrauchte Tochter genoss schlie?lich die Macht über den ihr sexuell hörigen Vater. Irgendwie hat sie es ja auch gewollt. Das mildert die Untat Danners, macht die Tochter indirekt zur Mitschuldigen und suggeriert, es habe „kein richtiger“ Missbrauch stattgefunden.
„Das Gemeindeleben hat aufgehört, zu existieren. Jeder misstraut den anderen. Es ist eine richtige Tragödie.“ Wohlgemerkt der Verlust des Gemeindelebens, nicht der Ermordeten. Das Verbrechen traf nicht Menschen aus der Mitte der Gemeinschaft, sondern „die da draußen“ auf „Tannöd“. In „Tannöd“ ist das Dorf indirekt Opfer der Verderbnis auf dem „Tannöd“-Hof. Ein schlechter Keim verdirbt die ganze Gemeinschaft. Muss ausgerissen werden. In Bettina Oberlis Verfilmung von „Tannöd“ reagiert niemand auf das Herausschreien der Mordnachricht, als wüsste jeder, was geschehen ist. Schloss sich in der Realität womöglich das Dorf zusammen,um den Hof in einem Akt kollektiver Lynchjustiz zu „reinigen“? Diese erodierende, sozialkritische Theorie vermeidet Schenkel peinlich, genauso wie das sich aufdrängend Thema sozialen Desinteresses. Der Monteur Huber berichtet von der Verwahrlosung der Danner-Kinder und der Verschmutzung im Haus. Statt Sorge spricht Ekel vor den ungepflegten Kindern aus seinen Worten. Mehr als deren Vernachlässigung ärgert ihn, dass er keine „Brotzeit“ bekommt. Unweigerlich denkt man an die Kinder, deren Fehlen heutzutage niemand bemerkt, deren Verstörtheit alle nervt, aber niemanden kümmert. Und keiner hat etwas geahnt. Nur kein „Tratsch und Ratsch“. Man kümmert sich um seine Angelegenheiten. Bis sie tot gefunden werden, in schäbigen Wohnungen oder im Müll. Dann gibt es einen Gedenkgottesdienst oder eine Lichterkette. Man soll ja nichts Schlechtes reden über die Toten.
Die zweite Auflage von „Tannöd“ des Verlags Nautilus schließt mit einem Interview der Autorin, welches nicht unvorteilhafter sein könnte. Gutbürgerlichkeit, welche der Roman unter der aufregenden Krimihülle atmet, scheint von der Verfasserin gelebt. In ihrem Heimatort war die zweifache Mutter bis zur Buchveröffentlichung die „Frau des Doktors“. Ein „Reiberdatschi“ hat die emsige Hausfrau („Das ist für mich kein Schimpfwort.“) in der Pfanne und den schaurig-finsteren Heimatkrimi, verrät Schenkel, schrieb sie im Inselurlaub. Von dörflicher Enge habe sie nie etwas gespürt. Dafür quelle sie nun über „vor Glückshormonen“ und habe schon das nächste Buch „in der Pipeline“. Nein, so verspießert war Andrea Maria Schenkel nicht im selbst geführten Interview. Wer die Autorin über Interessanteres als „Reiberdatschi“ reden hören möchte, lese das aktuelle Interview mit Andrea Maria Schenkel auf Weltexpress.
Die Kritiken zu dem 2007 erschienen Krimi „Kalteis“, der ebenfalls auf einem realen Verbrechen basierte, fielen weniger günstig aus. Für ihren dritten Roman „Bunker“ erntet Schenkel schließlich so manchen Veriss. Das Verstörende der realen Morde können weder „Tannöd“ noch „Kalteis“ einfangen.„Tannöd“ beutet das Grauen der Morde teilweise aus, statt die scheinbar heile Dorfgemeinde zu demaskieren. Stattdessen beschreibt „Tannöd“ das Übel als Fremdkörper, praktisch und figürlich liegt der „Tannöd“-Hof außerhalb. Die Bewohner haben sich mutwillig von der Gemeinschaft getrennt. Man darf sich weiter sicher fühlen in ländlicher Biederkeit. Dass so etwas bei uns passiert, kann sich keiner vorstellen.
Andrea Maria Schenkel: Tannöd, Edition Nautilus, Hamburg 2006