er 6. September 1945 war für Szymon Goldberg und seine Frau Maria ihr Tag der Befreiung: Die Alliierten befreiten die Gefangenen des KZ Adek, das von Kempetai, der japanischen »Gestapo«, auf der indonesischen Insel Java installiert worden war. Dort hatte den Geigenvirtuosen nach mehrjährigem Exil der lange Arm der Nazis erreicht.
Wie Goldberg und andere Gefangene berichteten, hatte die japanische Besetzung »Niederländisch-Indiens« (Indonesiens) Anfang 1943 noch keine antisemitischen Züge. Die japanischen Beamten wussten nicht einmal, was Juden sind. Dann entsandten die Nazis Emissäre, die die japanischen Behörden auf ihre Rassenpolitik einschworen. Daraufhin wurden am 1. September 1943 in Bandoeng alle Juden, 35 Männer und 80 Frauen und Kinder, verhaftet.
Szymon Goldberg (1909 – 1993) war von 1929 bis 1934 Erster Konzertmeister des Berliner Philharmonischen Orchesters unter Wilhelm Furtwängler, der Goldberg »für den besten Konzertmeister in Europa überhaupt« hielt. Goebbels vereinnahmte das Orchester als »Reichsorchester«. Die Entlassung der vier Juden im Orchester lag in der Luft. Goldberg beurteilte seine Lage so, dass er »in Deutschland unter Hitler nichts Gutes zu erwarten hätte.« Er betrieb die Lösung seines Vertrages, die ihm die Nazis verweigern wollten, wenn er nicht vor der Presse erklärte, er ginge freiwillig – seiner Solistenverpflichtungen wegen. Als dann noch seine Frau von der Gestapo bedroht wurde, verließen beide am 1. Mai 1934 Deutschland »Hals über Kopf«, um einer Verhaftung zu entgehen. Goldberg lebte 1940 in Brüssel. Nach der deutschen Okkupation nahm er ein Engagement für eine Konzerttournee in Niederländisch-Indien an. Seit 1940 hielt er sich auf Java auf.
Wie die Haft der Goldbergs verlief, ist nur bruchstückhaft bekannt. Er durchlief in zwei Jahren 14 Gefängnisse und Konzentrationslager. Die Haftbedingungen waren entwürdigend. Seine Hauptsorge galt der Rettung seiner Stradivari. Nach der Befreiung wurden die Goldbergs nach Australien gebracht, wo sie bis 1949 lebten und wo Goldberg auch Konzerte gab. Tagebücher und Memoiren sind von ihm nicht bekannt.
Wie alle jüdischen Familien bangten die Goldbergs um ihre Angehörigen. Was aus Goldbergs Verwandten in Polen wurde, teilte mir kürzlich seine japanische Schwägerin Hiroko Ohki mit. Seine Brüder Nathan, Jerzy und Julian lebten in Warschau. Nathan, Julian und ihre Frauen wurden wahrscheinlich ermordet. Jerzy und seine Frau Ziuta (Rosaline) flohen nach Lodz, das 1939 von der Roten Armee besetzt wurde. Jerzy wurde von den Sowjets gefangengenommen und nach Sibirien gebracht und »konnte deshalb«, wie Frau Ohki schreibt, »den Gaskammern entgehen«. Er überlebte das Lager und ging nach Palästina. Die jüdischen Frauen und Kinder wurden in den Iran deportiert, wo sie gemäß einem Abkommen der Sowjetunion mit Großbritannien vor den Nazis geschützt waren. Die Mutter der Goldsteinbrüder und Ziuta wurden wochenlang in einem Güterzug transportiert. Als sie in Teheran ankamen, starb die Mutter. Ziuta gelang es nach der Befreiung, nach Tel-Aviv zu kommen, und sie fand dort in einem Flüchtlingslager ihren Mann wieder. Neu ist Ohkis Information, dass Szymon Goldberg 1946 mit dem von Bronislaw Huberman gegründeten Palestine Philharmonic Orchestra in Tel-Aviv Konzerte gab und dort auch seinen Bruder Jerzy wiedertraf. Der starb 1956. Ziuta Goldberg korrespondierte bis 2000 mit Goldbergs Witwe Myoko Yamane-Goldberg, die sie 1997 in Tel-Aviv besucht hatte (Maria Goldberg war 1985 gestorben).
Das ist alles, was wir in Deutschland über Szymon Goldbergs Gefangenschaft, die Befreiung, das Wiederfinden seiner Angehörigen und sein Leben in Australien wissen. In Japan weiß man mehr. Myoko Goldberg verfasste eine Biographie des Meisters, die 2009 in Tokyo erschien (383 Seiten und ein Anhang). Darin finden sich die Kapitel »Gefangenschaft auf Java«, »Befreiung – Nach Australien«, »Lebenszeichen der Familie« (insgesamt 37 Seiten) sowie die Beschreibung seines weiteren Lebens in den USA, in Amsterdam, London und in Japan. Zudem vermittelt das Buch eine »Maximen« genannte Methodologie des Geigenspiels nebst Gedanken Goldbergs in Vorträgen in den USA, Erinnerungen an Einstein sowie Gespräche mit Musikern wie Radu Lupu, Kenji Kobayashi, Kazuki Sawa und anderen. Die beigefügte DVD enthält die einzigen Aufnahmen, die Goldberg zeigen, wie er mit der Violine in der Hand Beispiele gibt und das Instrument spielt. Ein spannendes Kapitel dürfte »Goldberg und Furtwängler« sein. Ob im Buch etwas über Goldsteins Bemühungen, seine Stelle als Erster Konzertmeister des Berliner Philharmonischen Orchesters wieder einzunehmen, und über die Ablehnung enthalten ist, geht aus dem Inhaltsverzeichnis nicht hervor.
In der Berliner Morgenpost vom 21.2.2014 schrieb Volker Blech: »Der Fall und die Figur Goldberg (gewinnt) immer noch an Kontur.« Das könnten sie noch mehr, wenn die Biographie ins Deutsche übersetzt würde. Dafür prädestiniert wären die Berliner Philharmoniker, die an ihrem einstigen Konzertmeister einiges wiedergutzumachen hätten.
Eine neue Quelle der Goldberg-Forschung tat sich Anfang Juli mit der Eröffnung des Szymon-Goldberg-Archivs an der Universität der Künste Tokyo auf, die Zeremonie begleitet von einem Kammerensemble der Dresdner Philharmonie. Goldbergs Schwägerin Hiroko Ohki hatte seinen Nachlass dem Archiv übergeben. Interessant wäre, ob sich darin noch Dokumente aus seinem Leben in Deutschland und im Exil finden, denn auch er wurde um die Welt getrieben, »öfter die Länder als die Schuhe wechselnd« (Brecht).