Ein Kind erlebt die politische Wende von 1989 als Naturereignis, als Müllansammlung und als Schweigen. Der Vater hatte plötzlich keine Lust, mit irgendjemand in Verbindung zu treten. Die Mutter läuft vom Arbeitsamt zur nächsten Umschulung. Im Neubauviertel steigt der Alkoholkonsum. Trauer und Schweigen. Das passt gar nicht zum medial vermittelten Freudentaumel jener Tage und Monate, die wir zu kennen glauben. Andrea Hanna Hünniger, 1984 in Weimar geboren, hat nicht nur genau hingeschaut, was da über ihre Kindheit hereinbrach, sie versteht es auch, sich minutiös emotional zu erinnern. Das erstaunlicherweise als Sachbuch ausgeschriebene, hinten blau und vorne karnevalesk erscheinende Hardcover-Büchlein erweist sich jedoch als weit mehr. Es ist eine Fibel, ein Tagebuch aus Alptraum-Prosa, eine Sammlung von Romanfragmenten mit einem Essay über die seelischen Ausläufer der DDR in heutige Biografien. Hünniger erhebt keinen Anspruch auf ein Wir, bei ihr ist das einzeln erlebte Aufwachsen ein knallhartes „man“, ein Joint-rauchendes Mädchen, das mit der grauen Fellmütze des Vaters herumläuft, auf deren Vorderseite ein Loch klafft.
„Es gab im Osten zwei Möglichkeiten, die Pubertät zu überstehen. Entweder man wurde ein Vollidiot, der alles Geld für die Bassrolle im Auto oder bei Pimkie ausgab, oder man wurde ein Vollidiot, den niemand fragte, ob er zu Pimkie oder in eine Großraumdisse mitkommen wolle. Ich gehörte zur zweiten Gruppe der Vollidioten.“
Die Sprache der inzwischen ziemlich erwachsenen Autorin ist ruppig und zart zugleich und lässt einiges erhoffen für kommende Romane!
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Andrea Hanna Hünniger, Das Paradies, Meine Jugend nach der Mauer, Sachbuch, 216 Seiten, Tropen – Klett-Cotta; September 2011, 17,95 Euro