Wien, Österreich (Weltexpress). Am Dienstagnachmittag ist, hundertjährig, „Captain Tom“ gestorben, betrauert von der gesamten Nation. Er, der dem Nationalen Gesundheitsdienst NHS, als dieser von der Covid-Krise überrollt wurde, auf höchst originelle Weise Spendengelder in Millionenhöhe zufließen ließ, war nun selbst an Covid-19 erkrankt. Denn Sir Tom Moore, der Mann mit dem Rollator, von der Queen an einem strahlenden Julitag auf Windsor Castle zum Ritter geschlagen, war eine lebende Legende, ein Nationalheld, geliebt und verehrt von allen – beliebter vielleicht gar als die Queen selbst. Premierminister Boris Johnson nannte ihn „Held“ und ließ den Union Jack vor seinem Amtssitz in Downing Street auf Halbmast setzen. Denn Sir Tom verkörperte England wie kein zweiter. Skurrilität und Schrulligkeit und vor allem „Charity“, Wohltätigkeit, ist auf den britischen Inseln mehr als eine nationale Tugend, es ist geradezu eine Leidenschaft. In den Hauptstraßen der Ortschaften mögen die Geschäfte verschwinden – doch es reiht sich ein „Charity Shop“ ans andere, für Spitäler, Tiere, Kranke, Kinder, Alte. „Charitable Trusts“ gehen zurück aufs Mittelalter, als die Reichen angehalten waren, ihr Vermögen der Kirche zu vererben. Ausgestattet mit wohltätigen Spenden entstanden zahlreiche berühmte Schulen und Universitäten.
Am 5. April letzten Jahres, auf dem ersten Höhepunkt der Covid-Krise, hatte der Veteran des 2. Weltkriegs im Rang eines Hauptmanns (Captain) eine unkonventionelle Idee: Er marschierte, angetan mit blauem Blazer, auf dem die drei Tapferkeitsorden aus dem Krieg prangten, über seinen Rollator gebeugt, durch den 25 Meter langen Garten seiner Tochter in Bedfordshire, nördlich von London. Zehn Runden täglich, 100 insgesamt, waren das Pensum des fast Hundertjährigen. Mit seinen stoisch durchgehaltenen Gartenrunden wollte der zähe „Yorkshireman“ mit dem trockenen Humor Spendengelder generieren – 1000 Pfund Sterling waren die anvisierte Zielgröße. Daraus wurden am Ende 39 Millionen Pfund (44 Millionen Euro); die Spenden kamen aus 53 Ländern. Nachdem zuerst die britischen und bald auch die internationalen Medien auf den exzentrischen Wohltäter aufmerksam geworden waren, flossen dem Gesundheitsdienst täglich Millionen zu. Captain Tom kam rasch ins Guinness-Book der Rekorde, er sang auf einer Single mit dem sinnigen Titel „You’ll Never Walk Alone“, die umgehend auf den ersten Platz der Hitparade katapultiert wurde – als ältester Interpret, dem dies je gelungen war. Hunde und Pferde, Busse und Boote und noch manch anderes wurden „Captain Tom“ getauft.
Dahinter steckt nicht nur die Bewunderung für den wunderbaren alten Mann – sondern auch die Verehrung des NHS: Der Gesundheitsdienst ist der nationale Stolz der Briten. Laut Umfragen steht der NHS ganz oben auf der Liste der Dinge, welche dem Herz der Briten am nächsten stehen – näher noch als „Fish and Chips“. Jeden Donnerstagabend traten sie an die Fenster und vor ihre Haustüren, um mit Applaus und Pfannendeckeln lautstark dem oft todesmutigen, total überforderten NHS-Personal für seinen Einsatz in der Covid-Krise zu danken. Überall tauchten Banner und Plakate auf: „Thank you NHS!“. Auch der konservative Premier Johnson sang dessen Loblied, als er an Covid erkrankte – und vom NHS gerettet wurde. Doch es war eine Labour-Regierung unter Premier Clement Attlee, der 1948 das weltweit erste direkt aus Steuergeldern finanzierte Gesundheitswesen schuf, in dem sich alle Bürger kostenlos behandeln lassen können. Und so rührend die Verehrung der Briten für „Captain Tom“ auch sein mag – dass nicht die Regierung, sondern ein Hundertjähriger mit Rollator dem schwerkranken Gesundheitsdienst mit Millionen unter die Arme greift, ist eigentlich eine nationale Schande.