Den Spitznamen gaben ihm die Medien, nachdem in einem Unterschlupf Sanchez angeblich Frederick Forsyths Roman ähnlichen Titels gefunden wurde. „Day of the Jackal“ ist ein semi-fiktionaler Thriller über den Attentäter Charles De Gaulles. Sanchez Notorität sollte die der Romanfigur bei weitem in den Schatten stellen. Seine Gewalttaten verübt der von Edgar Ramirez eindrucksvoll verkörperte Hauptcharakter mit selbstgefälliger Kaltblütigkeit. Seines Nachruhms ist „Carlos“ sich gewissen. Bedenkt man, dass der reale Sanchez anlässlich des Filmstarts Interviews gibt, scheint es, er schleift weiterhin an seiner Legende. Beim Kidnapping der OPEC-Minister 1975 trägt „Der Schakal“ das leicht lockige Haar unter der Baskenmütze zurückgenommen und ruft „Hasta la victoria de la siempre!“. Äußerlich ein junger „Che“ Guevara, psychologisch wohl eher dessen Gegenteil.
Hinter den unzähligen Gesichtern des Illich Ramirez Sanchez steckt in Assayas Thriller das eines Manipulators. Komplizen, Liebschaften und seine laut proklamierten Ziele nutzt Sanchez zu eigenen finanziellen und psychologischen Zwecken. Kampf ist für ihn kein höheres Ziel, sondern eine Lust. „Waffen müssen berührt werden. Ganz zärtlich.“, sagt er einer Geliebten. Mit nüchternem Scharfblick zeigt Assayas die perverse Verschmelzung von politischer Ideologie und Individuum zu einem untrennbaren Ganzen, einer lebendigen Terrorzelle. „Waffen sind die Verlängerung meines Körpers“, erklärt Sanchez. Die Identifikation mit der Waffe reicht bis zu deren Erotisierung. Das Machtobjekt wird zum sexuellen Fetisch. Gewalt liegt Sanchez im Blut. Zwingen die Umstände Carlos zur Ruhe, wird er zum Schatten seiner selbst, verfettet und betäubt sich mit Drogen. In seinen stärksten Momenten gelingt es Assayas, die Undefinierbarkeit von Sanchez Wesen zur Metapher für die Auslöschung der Individualität durch eine Doktrin zu machen.
Sanchez Eltern waren überzeugte Marxisten. Seine Brüder hießen Wladimir und Lenin. „Es ist eine Familiensache. Ich habe es von meinem Eltern geerbt.“, sagt Sanchez beiläufig über seine ideologische Überzeugung. Der erklärte Marxist ist hingegen dem Luxusleben nicht abgeneigt. Er wolle sein „Leben voll auskosten“ sagt Sanchez einem Journalisten. Anti-imperialistische Vorträge hält er schon mal im Edelrestaurant. Als „großbürgerliche Arroganz versteckt hinter revolutionären Phrasen.“ bezeichnet seine Gesprächspartnerin seine Doktrin, die im Film hauptsächlich aus pauschalen Floskeln besteht: „Alle Supermächte sind gleich. Der einzige Kampf, der für mich zählt, ist der der Unterdrückten gegen die Imperialisten.“ Einen „Söldner“ nennt ein Politiker den Terroristen treffend, dem – allem vorgeblichen Revolutionsgeist zum Trotz – gleichgültig scheint, von wem er seine finanziellen Mittel erhält. Lässt er sich auf Verhandlungen ein, dann mit Blick auf den Gewinn, nicht auf das Wohl der Geiseln. Die „Marke“ Carlos, sein Name, hat ihren Preis. „Ihr braucht mich. Meine Name ist Angst.“ Mit wachsenden Star-Allüren düpiert er schließlich seine Finanziers. Bis sie ihn fallen lasen.
Die biografischen Leerstelle, die Assayas bewusst in seinem faszinierenden Verbrechensepos belässt, sind zu gleich Schwäche und entscheidende Stärke des filmischen Persönlichkeitsmosaiks. Der trotz seiner enormen Länge packender Politthriller gibt nicht vor, den realen Menschen hinter dem Decknamen zu kennen. „Carlos – Der Schakal“ verleiht einer gewalttätigen Ära ein von seinem Träger und den Medien ikonisiertes Gesicht.
Titel: Carlos – Der Schakal
Land/ Jahr: Frankreich 2010
Genre: Thriller
Kinostart: 4. November 2010
Regie: Olivier Assayas
Drehbuch: Olivier Assayas, Dan Franck
Darsteller: Edgar Ramirez, Nora von Waldstatten, Alexander Scheer, Christoph Bach, Julia Hummer, Rodney El-Haddad, Ahmat Kaabour, Fadi Abi Samra
Kamera: Yorick Le Saux, Denis Lenoir
Schnitt: Luc Barnier, Marion Monnier
Laufzeit: 190 Minuten / 330 Minuten (Originalfassung Cannés)
Verleih: NFP marketing & distribution
Olivier Assayas Frankreich 2010 4. November 2010