Berlin, Deutschland (Weltexpress). Selbst wenn gelegentlich Artikel in zentralen westlichen Medien auftauchen, die über einen möglichen Waffenstillstand in der Ukraine fantasieren, oder in denen von einem Einfrieren die Rede ist – den entscheidenden moralischen Makel umgehen sie. Nicht so jüngst in „The Hill“.
Seit bald zwei Jahren tönt es nun ununterbrochen, man müsse die Ukraine unterstützen, und am letzten Wochenende wurde, passend zur NATO-Konferenz in München, der Lautsprecher noch ein Stückchen weiter aufgedreht. Aber an anderer Stelle passierte etwas Interessantes.
Es gab einen ersten Kommentar an wirklich wichtiger Stelle, der ausgesprochen hat, wie es tatsächlich um das Verhältnis zwischen dem Westen und den Ukrainern bestellt ist – in einer der zentralen Publikationen der politischen Szenerie der Vereinigten Staaten, The Hill, eine Zeitung und ein Webportal, die von vornherein die politische Bürokratie Washingtons, den Kongress samt all seiner Mitarbeiter als Leserschaft anvisierten.
„Im August 2023 nahmen US-Behörden an, dass schätzungsweise 500.000 russische und ukrainische Soldaten seit dem russischen Einmarsch im Februar 2022 getötet oder verwundet wurden. Im November sagte das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen, dass über 10.000 ukrainische Zivilisten gestorben seien.
Jüngst sagte ein ehemaliger Geheimdienstoffizier, dass die Truppenverluste jetzt bei über einer Million liegen, und die Schätzungen der UN über zivile Tote dramatisch höher ausgefallen sei: über eine Million tote Männer, Frauen und Kinder.
Sollte diese obszön schreckliche Zahl von Toten und Verwundeten uns schockieren?“
Der Autor dieses Kommentars ist Douglas MacKinnon, ehemals Redenschreiber für zwei republikanische Präsidenten, Ronald Reagan und George H.W.Bush, und für einige Jahre Mitarbeiter in der Presseabteilung des Pentagon. Also jemand, der die Abläufe in der politischen Blase kennt, wenn auch seit vielen Jahren als politischer Kommentator eher am Rand beheimatet.
„Wenn es die Rechtfertigung unserer Regierung, der des Vereinigten Königreichs und anderer in Europa war (zusammen mit dem Großteil der Medien, der Akademiker und verschiedenster Rüstungsunternehmen), die Ukraine und ihre Menschen als billige, benutzbare Spielfiguren zu gebrauchen, die in einem Stellvertreterkrieg gegen Wladimir Putin und Russland geopfert werden können, dann haben sie auf einer gewissen makabren Ebene Erfolg.
Sollte aber die Idee gewesen sein, durch Unterstützung des ukrainischen Krieges mit Russland irgendwie ‚die Menschen der Ukraine zu retten‘ und die Infrastruktur des Landes, dann sind jene elend gescheitert, die diese Handlungsweise vertreten haben.“
Wenn es einen Widerspruch gibt, der selbst dem vehementesten Anhänger des Wertewestens zu denken geben müsste, dann jener, den MacKinnon hier benennt. Auch wenn sein Kommentar unvollständig ist, weil das mögliche, von den Vereinigten Staaten verhinderte Ende des ukrainischen Krieges im März 2022 (und ich schreibe hier vom ukrainischen Krieg, da ein entsprechendes Abkommen auch den Krieg im Donbass, der 2014 begonnen hatte, hätte beenden können) ein zentraler Punkt ist, um das Ausmaß des Zynismus dieser „Solidarität mit der Ukraine“ kenntlich zu machen.
Dennoch, das sind Sätze, wie sie in dieser Art Medium bisher nicht zu lesen waren.
„Hat etwas davon bei der privilegierten und ’neokonservativen‘ Klasse auf beiden Seiten des Atlantiks eine Bedeutung, oder wird auch nur wahrgenommen – aus der Sicherheit einer Entfernung von Tausenden Kilometern und im Genuss von sechs- und siebenstelligen Gehältern – von jenen, die ständig dafür eintreten, die Jugend der Ukraine in die Zähne der russischen Kriegsmaschine marschieren zu lassen?
Wenn ihnen schon die Hunderttausende Toter und Verwundeter nichts bedeuten; die dem Erdboden gleichgemachte Infrastruktur; die mehr als sechs Millionen, die aus der Ukraine geflohen sind, oder die Milliarden Dollar US-amerikanischer Steuergelder, die verschwunden zu sein scheinen, was ist dann ihre Meinung, das Auslösen eines dritten Weltkriegs betreffend?“
Ja, auch MacKinnon erzählt eigenartige Dinge und beruft sich auf einen CIA-Bericht mit der Behauptung, der Einsatz taktischer Atomwaffen bedürfe in Russland keiner Entscheidung des Kreml. Aber in diesem Fall ist das eher der Beleg dafür, dass sein Motiv echt ist, dass es tatsächlich das Entsetzen über die Menschenverachtung ist, die sich in dieser Nutzung der Ukraine ausdrückt, und nicht Sympathien für die russische Seite. Vor allem aber ist es erstaunlich, dass The Hill diesen Kommentar publiziert hat. Es gab dort zwar immer wieder Darstellungen verschiedenster Überlegungen in den USA, wie man aus dem Projekt Ukraine möglichst ungeschoren herauskommen könne, doch dieses gewaltige moralische Geschwür wurde bisher nicht geöffnet.
„Selbst wenn wir die Aussicht, die einen frösteln macht, beiseitelassen, dass ein russischer General schlicht den Verstand verliert und selbst losschlägt, kann man leicht sehen – wenn man denn hinsieht – wie eine Eskalation dieses Krieges zu missinterpretierten Befehlen, falschen Annahmen oder sogar Computerfehlern führen könnte. Und alles davon könnte zum Verlust von Dutzenden – möglicherweise Hunderten – Millionen Leben führen. Und wofür?
Weil privilegierte Leute, Tausende Meilen vom Schlachtfeld und dem Gemetzel entfernt, entschieden haben, ein Brettspiel zu spielen, in dem Hunderttausende echter menschlicher Wesen unter dem Vorwand, „eine Nation vor Russland zu retten“, geopfert werden, um eine Nation zu schaffen oder um einen Stellvertreterkrieg zu führen, der die Welt auf Messers Schneide zum Dritten Weltkrieg führt.
Während der Krieg weiter wütet, wer wird die Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder, die getötet oder verwundet wurden, zur Kenntnis nehmen – oder zu ihrer Verteidigung aufschreien? Wann hat das unverhüllte Abschlachten menschlicher Wesen oder die sehr wirkliche Gefahr, den nächsten Weltkrieg zu entflammen, aufgehört, uns etwas zu bedeuten?“
Ja, es gibt mehr solcher Stimmen in den USA. Und ein Artikel in The Hill bedeutet noch lange nicht, dass auch bei jenen, die der üblichen westlichen Propaganda folgen, tatsächlich ein Nachdenken eingesetzt hat, oder die Bereitschaft besteht, die Frage, die MacKinnon aufwirft, und die letztlich die Frage nach der westlichen Schuld ist, auch nur zur Kenntnis zu nehmen.
Aber es ist die Einsicht, die er vertritt, die die Voraussetzung für einen Frieden wäre, und dass ein Blatt wie The Hill einen solchen Kommentar überhaupt veröffentlicht, während sich die Sicherheitskonferenz in München, auf der sich die von MacKinnon erwähnten Privilegierten treffen, zur gleichen Zeit in eine Art nihilistischen Hexensabbat verwandelt, ist zumindest ein Signal der Hoffnung.
Anmerkung:
Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn wurde am 20.2.2024 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.Lesen Sie auch die Beiträge
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