Mit ihrer Auswahl unter die letzten Sechs gibt die Jury immer auch eine Begründung an, die sie als Bewertung versteht: „`Tauben fliegen auf` ist die bewegende Geschichte einer Emigration aus dem ehemaligen Jugoslawien. Die Familie Kocsis, Teil der ungarischen Minderheit im Norden Serbiens, siedelt über in die Schweiz. Die Tochter Ildiko erzählt von der Schwierigkeit, in Zürich Fuß zu fassen. Von der alltäglichen Fremdenfeindlichkeit und von der Sehnsucht nach der Welt der Heimat, die durch den Balkankrieg endgültig verloren geht. Melinda Nadj Abonji schreibt in einem schönen, bildreichen, eigenwilligen Ton vom Erwachsenwerden und von der Suche nach einer eigenen Identität – ein Buch von poetischer Kraft.“
Es fängt also für die Icherzählerin Ildiko alles mit diesen Autofahrten an, beschwerlich, lange, bei Hitze oder Schnee, aber auf das Ziel zutreibend, das kindliches Sehnen ist: die Großmutter Mamika. „Gott hat euch gebracht, Mamika, die nicht lächelt, die nicht weint, die diesen Satz mit der ihre eigenen zarten Stimme sagt, uns einzeln die Wangen streichelt, auch meinem Vater, ihrem Kind, Gottes Gunst, die uns in ihr Wohnzimmer, das gleichzeitig ihr Schlafzimmer ist, führt, seine Gnade, die uns Traubisoda, Tonic, Apa Cola und zwischendurch ein Schnäpschen serviert”¦“(12) Alles, was Ildiko über Mamika erzählt, ist einem, als ob das Urbild einer liebevollen Großmutter vor einem ersteht, aber da ist nichts Typenhaftes, sondern es gelingt der Autorin das ganze Buch auf den 315 Seiten hindurch, für jeden der in der Erzählung auftauchenden Menschen einen eigenen Ton, eine eigene Farbe, etwas Unverwechselbares zu finden, die einerseits uns mit diesen Menschen aus Fleisch und Blut bekanntmachen, uns neugierig macht, ja fesselt, und andererseits diesen Menschen ein richtiges Gesicht gibt, sie zu Menschen macht, nicht nur Protagonisten in einer Familiensaga.
„Und ich, die in ängstlicher Genauigkeit das Zimmer inspiziert, mit einem Blick die Kredenz, den Haussegen, die Flickenteppiche sucht, hoffe, daß alles noch so ist wie früher, weil ich, wenn ich an den Ort meiner frühen Kindheit zurückkehre, nichts so sehr fürchte wie Veränderung: Das Erkennen der immergleichen Gegenstände, die mich vor der Angst schützt, als Fremde in dieser Welt dazustehen, von Mamikas Leben ausgeschlossen zu sein, ich muß, so schnell es geht, zum Innenhof zurück, um meine ängstlichen Inspektionen fortzusetzen: Alles noch da?“(13) Es ist das Jahr 1980.
Und dann erfolgt eine minutiöse Beschreibung der bäuerlichen Welt der Heimat, das Essen: Es wird „Hühnergulasch mit Nockerln aufgetischt, Paniertes vom Schwein mit frittierten Kartoffeln und Kürbisgemüse, an der Sonne gesäuerte Gurken und Tomatensalat mit roten Zwiebeln“ (15), das Trinken: Traubi, der Geruch von Mamika und ihre weiche Haut, die Wärme ihres Kleides. Die Autorin selbst erklärt ihre Inspektionen der Dinge und der Schwester Fragerei: „weil wir beide die Angst hatten, nichts mehr mit unserer Heimat zu tun zu haben, wollten wir die Zeit einholen, in der wir nicht da gewesen waren und in diesem Wettrennen waren wir unsäglich erleichtert, wenn wir uns an ganz banalen, alltäglichen Dingen orientieren konnten”¦“ (20). Und dieses Ankommen, dieses Nachhausekommen ist nicht nur anrührend beschrieben, sondern bleibt später auch die Wurzel des Erinnerns, denn was als festgefügte und geordnete Welt den Kindern erscheint – und meist auch so war – zeigt hier im Nachhinein schon Risse und überlebte das Auf- und Auseinanderbrechen Jugoslawiens nicht. Und wer um diese einzigartige Symbiose – Titos Sommer heißt dieses erste Kapitel – weiß, der weint mit der Verfasserin um das Verlorene.
Dinge sind natürlich nur der Anfang für das Eintauchen in eine Welt voll der sonderbarsten Menschen, eigen, monströs oder nur schräg. Warum ist das so, daß unseren zivilisierten Ländern diese menschlichen Originale verloren gehen, die in ihren Bauerngegenden mit Schnaps und Geselligkeit eine faszinierende Schrulligkeit entwickeln, wo man tagelang ihre Geschichten von und über sie hören möchte. Und wie sie Feste feiern können! Und während wir diesen Roman außerordentlich gerne vor uns hin lesen, weiterhin mit der Icherzählerin Ildiko auch ihre ersten Romanzen erleben, fragen wir uns, was es eigentlich ist, was uns hier fesselt und anrührt.
Sicher ist es neben den oft urkomischen Inhalten und fatal danebengehenden Absichten des Familienpersonals und ihres angestellten Personals im dann erworbenen gutbürgerlichen Café, vor allem die Sprache, zu der Melinda Nadj Abonji ihre Erzählung verdichtet. Da werden Alltagsdinge poetisch verwoben, aber da wird in sanften Worten auch vom Brudermord erzählt, der zuwege bringt, daß der eine die Heimat nicht in der jugoslawischen Volksarmee verteidigen darf, weil er Ungar ist, dafür aber ein anderer desertiert, weil er sich als Bosnier fühlt und als bosnischer Serbe nicht in derselben Armee kämpfen will”¦wozu noch die Kroaten kommen”¦
Der Krieg ist überall. Und der Balkan in aller Munde. Jeder wird ein Experte und jeder sieht die Berechtigung der Kämpfe, bedingt durch seine Herkunft, anders. Ildiko und ihre Schwester Nomi – die bisher unterschlagen wurde, was nicht rechtens ist, denn sie bildet ein klug konzipiertes Gegengewicht zur auktorialen Erzählerin – finden sich mitten im politischen Strudel der schweizerischen Besserwisser, denn jeder hat zum Konflikt eine Meinung beizutragen. Und seien wir ehrlich. Dies ist bis heute der undurchschaubarste und den Bruder abschlachtende Kampf geblieben, ideologisch fortdauernd. Zumindest können Nomi und Ildiko auf dem Friedhof Silfeld an Allerheiligen ein Gemeinschaftsgrab aufsuchen „und da, quasi bei der WG unter den Gräbern, könnten wir doch zusammen Blumen hinlegen für unsere Toten; statt diesem Tag ständig aus dem Weg zu gehen, könnten wir ihm doch wieder die Bedeutung geben, die er hat, außerdem wüßten wir ja nicht, wie lange es noch dauert, bis wir wieder in die Vojvodina zurückkönnen”¦“ (315) Also gedenken die beiden Schwestern der Toten in der Heimat und „für Sie, Mamika haben wir eine Lied gesungen, und in Ihrem Namen haben wir darum gebeten, daß die Lebenden nicht vor ihrer Zeit sterben.“ (315)
Für uns wäre dieser Roman den Deutschen Buchpreis wert, auch wenn wir ihn einem anderen Buch gäben. Das hat damit zu tun, daß beim Lesen des Romans das Zwingende verlorengeht, man aus Sympathie weiterliest und gerne liest und sich in die Sprachfähigkeit der Autorin geradezu verliebt. Dennoch ließe sich manches auch anders erzählen und bei den sechs Bewerbern gibt es ein Buch, das unserer Meinung nach nur Wort für Wort so geschrieben werden konnte, wie es nun in Schwarz auf Weiß da steht. Aber danach, danach kommt gleich Melinda Nadj Abonji, die auch für den Schweizer Buchpreis nominiert ist, für den wir auch Glück wünschen.