Struwwelpeters Nachfahren. Starke Kinder im Bilderbuch der Gegenwart – Serie zum Zweihundertsten Geburtstag: der Heinrich Hoffmann Sommer 2009 in Frankfurt am Main (Teil 8/10)

Antje Damm: „Räuberkinder“, 2008

Beim Rundgang mit Autorin Antje Damm, die auch auf dem Eröffnungspodium gesessen hatte, nahm diese die Häufigkeit der weiblichen starken Kinder auch erstaunt zur Kenntnis, meinte aber für ihre Bücher, daß sie die Mädchen male und ihnen Sprüche in den Mund lege, sei ja klar, sie habe vier Mädchen und die meisten Texte erwüchsen tatsächlich aus dem Alltag und der Beobachtung ihrer Töchter. Generell kann man aber heute sicher sagen, daß nicht erst seit Pippi Langstrumpf es die Mädchen in der Literatur sind, die die mutigeren, die listigeren, die diplomatischeren Kinder darstellen und die, die auf eine Konfliktklärung aus sind.

Die Eröffnung litt unter zu vielen und zu langen Reden, zumal auch selten eine so brave Einführung in eine Ausstellung zu hören war, die doch dem „starken“ Kind gewidmet ist, wobei nicht ganz klar ist, worin die Stärke besteht, im Widerstand gegen eine Erwachsenenwelt oder im geschickten Durchsetzen von Kinderinteressen. Hausherrin Elisabeth Niggemann sprach und begrüßte, nachdem  mit einem musikalischen Kinderlieder-Potpourrie am Klavier Gerd Neidhart erfreut hatte, was sich in der Ausstellung dann fortsetzte. Die Eröffnungsrede hielt Hans-Heino Ewers, Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er war in diesen Heinrich Hoffmann Sommer einer der Hauptaktivisten und auch diese Ausstellung wurde von Damen seines Hauses konzipiert und aufgebaut.
„Wir eröffnen heute die letzte Ausstellung des Hoffmann-Sommers. Sie führt uns als einzige in die Gegenwart der Kinderliteratur, speziell der Bilderbücher von heute“, führte er aus. „Als wir diese Ausstellung planten waren wie einigermaßen unsicher, würde eine Suche nach Spuren des Struwwelpeter in Bilderbüchern der Gegenwart wirklich erfolgreich sein?“  Hans-Heino Ewers konnte seine rhetorische Frage gleich bestätigen: „Das Hoffmannsche Bilderbuch erweist sich, was die Themen und Motive angeht, als eine Art cantus firmus auch noch der Bilderbücher unserer Tage.“ Damit meinte er nicht nur die Thematisierung vom Kind im Buch, die ja am Struwwelpeter eh das Neue war, sondern auch Hoffmanns Mal- und Zeichenstil, in dem sich heutige Bilderbuchkünstler tapfer übten: Karikaturistisches und Groteskes.

Ein anschließendes Werkstattgespräch auf der Bühne „Wie entstehen Bilderbücher?“ zwischen Antje Damm, Bilderbuchautorin,  und Inge Sauer, Bilderbuchexpertin, hatte einen Moderator, was nicht nötig war und das lebendige Gespräch eher hemmte. Und Linde Storm, die als Kuratorin die abschließende Einführung in die Ausstellung gab, konnte einem schon leid tun, weil sie das mehrfach Gesagte noch einmal wiederholte und zudem in die Dankesfalle tappte, die derzeit bei Eröffnungen grassiert. Das Gedanke, das das Publikum dann bei jedem einzelnen Namen mit Beifall beklatschen muß, kommt tatsächlich einer Nötigung der Anwesenden gleich, zumal es im Vorhinein erteilt werden muß, wenn die Leute, die Ausstellung noch nicht gesehen haben.
Zu der aber soll es nun gehen und die Ausstellung, das sagen wir gleich, ist witzig und bringt auch demjenigen, der nicht kleine Kinder mit Material versorgen muß, auf einen Schlag eine sehr gute Überblickssituation, wo er wahrnehmen kann, was sich seit seinen Kindertagen oder denen seiner Kinder inzwischen alles verändert hat. Ziemlich viel. In den 70er Jahren war der Antistruwwelpeter von F.K. Waechter ja nur die Spitze des Eisbergs für das ideale Kind, das renitent, frech und unbeugsam war. Also eigentlich eine Fortsetzung der Buben im Struwwelpeter, nur mit dem moralischen Lob der Erwachsenen bedacht, denn die Renitenz galt nicht unsinnigen Vorhaben, sondern dem grundsätzlichen Widerstand gegen autoritär verfügte Erwachsenengewalt. Die antiautoritäre Erziehung, war ein Schlagwort, das sich in Bild und Wort gebracht im Bilderbuch der damaligen Zeit wiederfand.

These der Ausstellung ist nun, daß das moderne Bilderbuch ein „starkes“ Kind präsentiere, das gelernt habe, „seinen Trotz, seinen Widerstand, seine Zurückweisung“ zu überwinden. Nicht das Kind so funktionalisierend oder vereinnahmend, könnte man sinnvoller sagen, „Stark“ bedeute nicht starr und unnachgiebig, sondern „stark“ ist das Kind, wenn und wie es Konfliksituationen löst. Wie gesagt, wir sehen hauptsächlich Mädchen in den zehn Ausstellungskabinetten, die den zehn Hoffmannschen Geschichten aus dem Struwwelpeter entlehnt sind, aber aufzeigen, daß die heutigen Bilderbuchkinder die seit dem Struwwelpeter gleichgebliebenen Konfliktsituationen auf andere Art lösen.
Da liest man dann: „Ich zeige Dir mal, wie man es nicht machen soll!“ „Und auf was muß ich beim Essen achten, fragt Oma Meier?“ Aber auch einen antiautoritären Vater kommt vor: „’Grrr!’ fauchte Papa. ’Sei nicht so höflich, Wolfi. Warum kannst du Dich nicht einfach schlecht benehmen?“ aus „Fiessein für Anfänger“. Das ist übrigens die einzige Fehlstelle, in dem so schön konzipierten Begleitbuch, in dem Verleger Michael Imhof wieder erstaunlich gute Farbdrucke gelangen, daß wir keine Namensliste der ausgestellten Bilderbücher fanden. Die sind in den jeweiligen Kabinettsartikeln erwähnt, aber diese sind ja eher eine pragmatische Unterteilung, als eine echte inhaltliche Abgrenzung. Im Kabinett der Nachfahren des bösen Friederichs kann man dann auch die Jungen finden. Bis heute ist sadistisches Verhalten und das Bösesein ihnen zugeordnet. Aber schaut man sich dann noch einmal im Rundgang alle ausgestellten Bilderbücher an, fällt auf, wie häufig die Kinder in Gruppen dargestellt sind und auch gemeinsam Streiche aushecken oder Probleme lösen, Mädchen vereint mit Jungen.

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Hauptausstellung im Historischen Museum: bis 20. September 2009

Katalog/Begleitbuch: Heinrich Hoffmann – Peter Struwwel.“ Ein Frankfurter Leben 1009-1894., hrsg. von Wolfgang P. Cilleßen und Jan Willem Huntebrinker , Michael Imhof Verlag 2009

Ausstellung in der Deutschen Nationalbibliothek: bis 26. September 2009

Katalog/Begleitbuch: Struwwelpeters Nachfahren. Starke Kinder im Bilderbuch der Gegenwart, hrsg. von Linde Storm und Sibylle Nagel, Michael Imhof Verlag 2009

www.hoffmann-sommer.de
www.struwwelpeter-museum.de
www.frankfurterbuergerstiftung.de
www.historisches-museum.frankfurt.de

Gängige Struwwelpeterausgaben:

Der Struwwelpeter. Mit einem Nachwort von Peter von Matt, Reclam, Stuttgart 2009
Der Struwwelpeter, Schreiber, Esslingen 1992
Neue Bücher über Heinrich Hoffmann
Heinrich Hoffmann „Dukatenbilder“, hrsg. von Marion Herzog-Hoinkis und Rainer Hessenberg, Inselverlag 2009, Insel-Bücherei Nr. 1314
Heinrich Hoffmann „Allerlei Weisheit und Torheit“, hrsg. von Marion Herzog-Hoinkis und Helmut Siefert, Mabuse Verlag 2009
Bis zu seinem Todestag am 20. September werden in Frankfurt viele Ausstellungen diesen Heinrich Hoffmann Sommer begleiten, über die wir berichten.

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