Dabei vollbringt Wangel bei Ibsen doch das Wunder, das Nora von ihrem Mann vergeblich erhofft. Wangel gibt Ellida aus der Versorgungsehe frei, damit sie sich für ihn oder für den Seemann entscheiden kann, mit dem sie sich früher, in einer romantisch-mystischen Aktion, verlobt hatte. Diese Freigabe findet auch in Kimmigs Inszenierung statt. Allerdings haspelt Steven Scharf sie so emotionslos herunter als sei er in Gedanken weniger bei seiner Frau und mehr bei dem Essen, zu dem er Ellida ausgeführt hat.
Nun hat Ellida bei Stephan Kimmig gar nicht die Wahl zwischen zwei Männern, denn als der Seemann, der zurückgekehrt ist, um seine Braut zu holen, erscheint Wangel selbst, mit einer Wollmütze verkleidet. Kimmig hat in seiner Inszenierung das Mystische gestrichen, denn bei Ibsen bleibt unklar, ob der Seemann ein Lebender oder ein Geist ist. Stattdessen kommen hier die verworrenen Gedankengänge von Wangel ins Spiel.
Zunächst hatte Wangel geglaubt, der Mann aus Ellidas Vergangenheit sei der Oberlehrer Arnholm. Den hatte Wangel eingeladen, angeblich, damit Ellida sich mit einem alten Freund aussprechen könne, tatsächlich aber wohl eher, weil Wangel hoffte, die alte Liebe könne wieder erblühen und Arnholm würde ihn von seiner unbequemen Frau befreien. Nachdem Wangel nämlich erfahren hat, dass Arnholm lediglich ein abgewiesener Verehrer war, den Ellida inzwischen längst vergessen hat, geht er dem Mann wütend an die Gurgel.
Die Szene, in der Ellida ihrem Mann von dem mittlerweile vermutlich ertrunkenen Seemann erzählt, ist in dieser Inszenierung, weshalb auch immer, gleich zweimal zu erleben. Daraufhin sucht Wangel als dieser Seemann seine Frau heim, was eigentlich nichts anderes bedeuten kann, als dass er Ellida in den Wahnsinn treiben will. Dieser Plan gelingt nicht, und trotzdem kann Wangel sich am Ende ungestört seinem Festmahl widmen.
Anders als bei Ibsen entscheidet Ellida sich letztlich nicht für ihren Ehemann, auch nicht für den Seemann, sondern sie geht ganz allein in eine ungewisse Zukunft.
Susanne Wolff in ihrem leuchtend roten Kleid lässt bei ihrem beschwingten, zuversichtlichen Abgang deutlich werden, dass sie die Last der Vergangenheit abgeschüttelt hat. Wolffs Ellida entspricht nicht der sterbenden Meerfrau, die der Künstler Ballested auf die Leinwand bringt. Anders als Steven Scharfs Wangel ist Susanne Wolffs Ellida jedoch eine schlüssige, überzeugende Figur. Mitleid erweckt sie nicht. Dazu ist sie zu stark und zu abweisend. In ihr brodeln unterdrückte Leidenschaften. Sie ist eine Rebellin, die sich einen Ausweg aus der Tristesse zu erkämpfen sucht, in der sie gestrandet ist.
Schon Susanne Wolffs erster Aufritt ist sehr beeindruckend. Ellida kommt vom Schwimmen, und Kostümbildnerin Anja Rabes hat sie mit einem dunklen, nassen T-Shirt und weiten dunkelroten Hosen ausgestattet, die den Eindruck eines Fischschwanzes erwecken. Es ist die Meerfrau, die hereinschwebt, eine Urgewalt, die das armselig beschauliche Leben weitab vom Meer bedroht.
Wie ihr Mann nimmt auch Ellida keinen Anteil an ihren Mitmenschen. Manchmal erscheint sie wie ein Monster, das eher von Strindberg als von Ibsen erschaffen sein könnte. Aber es ist erkennbar, woran diese Frau leidet. Sie führt ein eintöniges, langweiliges Leben ohne Aufgaben und Herausforderungen und, vor allem, sie hat den Tod ihres Kindes nicht verwunden.
Ellidas Stieftöchter errichten einen Altar mit Kerzen und weißen Lilien anlässlich des Geburtstags ihrer vor vielen Jahren verstorbenen Mutter. Wangel will, dass dies heimlich geschieht, damit Ellida nicht verletzt wird. Damit grenzt er seine Frau aus, lässt sie an der Trauer nicht teilhaben, so wie er an ihrer Trauer über den Tod des gemeinsamen Kindes auch niemals teilhaben wollte.
Es ist von Anfang an klar, dass diese Ehe nicht zu retten ist. Dennoch zeichnet sich kurz vor Schluss wenige Augenblicke lang die Möglichkeit einer überraschenden Wendung ab. Ellida erklärt ihrem Mann sehr präzise, was in ihrer Ehe schief gelaufen ist. Susanne Wolff spricht leise und eindringlich, und obwohl sie die Gründe für das Scheitern sehr vernünftig formuliert, klingt die Bitte um Verständnis und Annäherung mit. Wenn Wangel aufmerksam zuhören würde ”¦ Aber der kann seine Ungeduld, endlich mit dem Essen anzufangen, kaum noch bezähmen.
Ibsen hat die männlichen Nebenfiguren des Stücks skurril skizziert. In Stephan Kimmigs Inszenierung sind sie so überzeichnet, dass ihnen das Liebenswerte fehlt ohne dass sie deshalb komisch wirkten. Sie sind abstruse Schatten, die im düsteren Bühnenlicht auftauchen und verschwinden vor dem dunklen Holzhaus, das Katja Hass entworfen hat und das sich gelegentlich dreht und den Blick auf wenig einladende Innenräume eröffnet.
Lyngstrand (Benjamin Lillie) schreit am Anfang, nach ausgelassenem Tanzen, so laut nach Luft, dass er unmöglich schwach auf der Brust sein kann. Überhaupt wirkt er nicht wie ein Todkranker, der auf Genesung hofft, sondern eher wie ein Gesunder, der den Leidenden spielt, um sich die Aufmerksamkeit der Damenwelt zu sichern.
Der Geist des Seemanns tritt nicht in Erscheinung, Michael Goldberg als Arnholm jedoch wirkt mit seinem bis auf die Ohren heruntergezogenen Hut wie ein Gespenst aus vergangener Zeit vor dessen Zugriff Wangels Tochter Bolette leider nicht bewahrt wird.
Der Allroundkünstler Ballested (Timo Weisschnur) ist eine traurige Gestalt, die, trotz mehrsprachiger Proklamation, kaum an Unterhaltungswert gewinnt.
Bolette und Hilde, Wangels Töchter aus erster Ehe, sind ebenfalls nur Nebenfiguren. Franziska Machens und Lisa Hrdina gestalten sie jedoch sehr lebendig und anrührend. Beide sind mit altmodischen Kleidern herausgeputzt, junge Frauen, die nur auf dem Heiratsmarkt eine Chance haben und in ihrer tristen Einöde kaum wünschenswerte Bewerber finden können.
Bolette nimmt deshalb den für sie überraschenden Heiratsantrag ihres alten Lehrers Arnholm an. Franziska Machens verkörpert sehr wahrhaftig diese junge Frau, der auf einmal die Aussicht zu reisen und etwas zu lernen geboten wird und die sich selbst davon überzeugt, dass der alte Mann eine akzeptable Partie für sie sei.
Hilde, die Jüngere, steckt noch in der Pubertät, ist aufsässig, provozierend und fasziniert von allem Morbiden. Lisa Hrdinas Hilde steckt voller Leben und Abenteuerlust. Hinter ihren Bosheiten versteckt sie die Sehnsucht des allein gelassenen Kindes nach Zuwendung.
Es wäre schön, wenn Ellida bei ihrem Fortgehen ihre beiden wundervollen Stieftöchter mitnehmen würde.
„Die Frau vom Meer“ von Henrik Ibsen hatte am 26. 11. Premiere im Deutschen Theater. Weitere Vorstellungen: 06., 12., 19. und 26.12.2014.