Das, was das ganze Jahr über geboten wurde, und zwar auf dem Rasen, der die Welt bedeutet, teils unter Dutt, teils unter Trainer Thomas Schaf, ist weit entfernt dem, was wenige Zeitgenossen vor Ort oder in Farbe am Fernseher mitverfolgen durften: die Wunder von der Weser.
Herausgeber Sven Bremer, Jahrgang 1963, hat viele dieser Wunder miterlebt, als Zuschauer, als Reporter. Der freie Journalist fragte jedoch vor allem die beteiligten Spieler, „einen der Hauptprotagonisten des Spiels“. Michael Kutzop schreibt über die verlorene Meisterschaft und seinen Pfostenschuß vom Elfmeterpunkt gegen die Bayern 1986. Frank Neubert berichtet über „Die Mutter aller Wunder“, das legendäre 6:2 gegen Spartak Moskau, für das er die ersten beiden Treffer selbst erzielte und schreibt, dass die Zuschauer „Zugabe, Zugabe“ gebrüllt hätten und die Mannschaft immer weiter antrieben, ganz nach vorn. Zum ersten Wunder im UEFA-Cup im November 1987 gesellte sich das zweite, das legendäre 5:0 im Europappokal der Landesmeister gegen Dynamo Berlin. Unter dem Titel „Kommt raus ihr Feiglinge“ und dann spielte Werder wie im Rausch und Thomas Schaaf erzielte in der letzten Spielminuten den vielumjubelten 5:0-Endstand. Dieter Eilts erzählt von seiner Begegnung mit Maradona beim Spiel Werder Bremen gegen SSC Neapel im Dezember 1989, Endergebnis 5:1. Uli Borowka schreibt über Werders Europapokalerfolg im Mai 1992 gegen den AS Monaco und notiert über das Finale in Lissabon: „Mein Gegenspieler war George Weah, Afrikas Fußballer des Jahrhunderts und späterer Weltfußballer… Ich habe mich in jeden Zweikampf geschmissen, ich habe ihn in der ersten Viertelstunde gleich dreimal umgewichst, aber der hat noch nicht mal gezuckt. Das hat den überhaupt nicht interessiert.“
Thomas Wolter hält unter dem Titel „Werder tanzt Walzer“ fest: Am vorletzten Spieltag kam der HSV in Weserstadion. Die Hamburger standen in der Tabelle irgendwo zwischen Gut und Böse. Für sie ging es um nichts mehr. Trainer beim HSV war damals Benno Möhlmann, der mit einigen von uns ja noch bei Werder zusammen gespielt hatte. Benno stellte den unerfahrenen Niels Bahr zwischen die Posten, und der arme Kerl wird diesen Tag wohl nie vergessen. Am Ende hat er fün Stück gekriegt und sah bei mindestens drei Treffern ziemlich alt aus. Weil die Bayern „nur“ 3:1 in Boch gewonnen hatten, waren wir erstmals am 33. Spieltag Tabellenfführer – immer noch punktgleich, aber mit dem um ein Tor besseren Torverhältnis…. Die Bayern regten sich danach furchbar auf. Karl-Heinz Rummenigge nannte das Spiel, soweit ich mich erinnere, eine ‚ganz üble norddeutsche Provinzposse‘ und Uli Hoeneß palaverte was von Betrug.“ Am letzten Spieltag wurde Werder in Stuttgart Dank zweier Tore von Bernd Hobsch Deutscher Meister der Saison 1992, 1993.
Über das dritte Wunder von der Weser „bei Werder-Wetter“ schreibt Kiwi Wynton Rufer, der beim 5:3 Anfang Dezember 1993 zwei Treffer erzielte: „Es war ”¦ ganz bestimmt das verrückteste Spiel meiner karriere. Ich habe irgendwann zur Anzeigetaffel geschaut und konnte es gar nicht glauben. Fünf Tore in nur 24 Minuten, zwei davon von mir. Und das nach einem 0:3 Rückstand. Kein Wunder, das der Kiwi anschließend auff Händen über den Rasen lief, der von begeisterten Fans und dem am Spielfeldrand vorher wie verrückt rumhüpfenden Rehhagen gestürmt wurde.
Christoph Dabrowski erzählt vom Abstiegskampf und seinem wichtigen Kopfballtor gegen Schalke 04, dem ersten Spiel von Thomas Schaaf als Cheftrainer. Bremer meint: „Ohne das Tor des damals 20-Jährigen wäre Werder mit ziemlicher Sicherheit abgestiegen.“ Nach der Talfahrt bekam Werder Aufwind und wurde DFB-Pokalsieger 1999. Jens Todt erinnert sich an den Sieg in Berlin über die Bayern aus München.
Marco Bode berichtet über „das Wunder gegen Olympique Lyon“ und Werder als „Wundertüte“. Zur „Mutter aller Pleiten“ gibt Jürgen L. Born seine Erinnerungen preis.
Auch Thomas Schaaf kommt zu Wort und schreibt über seine erste Meisterschaft, vor allem über das Schlüsselspiel beim VfB Stuttgart. „Das 4:4 im März 2004 ”¦ gehört für ihn definitiv zu den besten, aber auch zu den verrücktesten Spielen, die er je gesehen hat“, notiert Bremer. Valérien Ismael erzählt von der Meisterschaft 2004, dem 3:1-Triumpf im Münchner Olympiastadion gegen den FC Bayern und ganz Bremen in Grün und Weiß. Tim Borowski berichtet aus der Champions League „über wütende spanische Fans und Spieler, über das Traumtor und den zweiten Trefer von Nelson Valdez gegen den FC Valencia.
Die ehemaligen Stars im Papageien-Trikot, Andi Reinke, Frank Baumann, Markus Rosenberg und Torsten Frings, erinnern sich wie die noch Aktiven in Grün-Weiß, Aaron Hunt und Clemens Fritz. Doch nach den letzten großen Ereignissen in der Bundesliga, den Derbywochen gegen den HSV im April und Mai 2009, mit einer legendären Papierkugel und super Siegen, und den letzten Spielen in der Champions League 2010 endet das Besondere aus Bremen. Aussicht auf Besserung ist dort, wo die Weser einen großen Bogen macht, nicht in Sicht. Schade eigentlich.
Was bleibt sind Bücher wie die von Bremer, für die sich Idole von einst, Spieler, Trainer und Funktionäre, erinnern und die erzählen, „ausführlich und sehr persönlich über den Verlauf sowie die das Spiel begleitenden Umstände“. Für Fans ist das vorliegende 159 Seiten starke Werk im A4-Format ein echter „Einblick hinter die Kulissen, die den standardisierten journalistischen Spielberichten fehlen. Durch Stimmungsvolle Fotos wird auch optisch die Atmosphäre jener ‚Wunder von der Weser‘ wiedergegeben“, informiert der Göttinger Verlag Die Werkstatt. Dieses Buch ist mehr als ein Blickfang für Fan-Altar und Fußball-Archiv. Es ist ein Muss: für weitere Wunder!
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Sven Bremer, Wunder von der Weser, 20 legendäre Werder-Spiele, 160 Seiten, viele Fotos, Hardcover, Großformat, Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2013, ISBN 978-3-7307-0015-0, 19,90 EUR (D)