„Ich hatte gestern Freunde zum Dinner eingeladen“, stöhnend füge ich an, teils um die Mittagspause mit Gespräch zu füllen, teils um mich wichtig zu machen: „fast eine Stunde habe ich Silber geputzt“. Dabei schaue ich etwas genervt, damit niemand merkt, dass ich dies eigentlich ganz gerne sage und dabei auch ein wenig stolz bin. „Tja, wir können uns mittlerweile Cromargan leisten, das schaffen Sie auch noch wenn Sie ein wenig sparen“. Eindeutig die falsche Reaktion, die meine Kollegin Sabine da gerade gezeigt hat.
Bin ich denn einfach nur altmodisch, ist mein Wertecodex derart überholt oder habe ich in der falschen Gesellschaft das Falsche gesagt? Ich tippe optimistisch auf letzteres, gehe zurück an meinen Schreibtisch und denke über die Situation nach:
Natürlich hat Sabine Recht, wozu in aller Welt ist es denn gut, das hübsche Besteck für 24 Personen, massiv Silber, hergestellt um 1900 und seit Generationen der Stolz der Familie? 287 Einzelteile, die immer wieder anlaufen und bei denen die Messer einfach viel zu monströs sind. Und doch herrscht stillschweigendes Einvernehmen über die latente Freude aller Sippenmitglieder – und meistens auch der Gäste –, wenn die Tafel mit dem matt schimmernden Metall eingedeckt, für jede nur erdenkliche Speise ein Spezialwerkzeug vorhanden ist und in der Mitte die alten Augsburger Leuchter von 1790 prangen.
Die Geschichte des Tafelsilbers ist da sehr aufschlussreich: Während bis zum Anfang des 18. Jahrhundert Mundbestecke, d.h. persönliche Einzelcouverts in hübschen Boxen, die auch auf Reisen mitgeführt wurden, den Tischsitten bei Hofe genüge taten, entstanden etwa um 1750, beinahe zeitgleich mit der Erfindung des Porzellans in Europa, was man bis jüngst Johann Friedrich Böttger zuschrieb, heute aber dem Naturforscher Ehrenfried Walther von Tschirnhaus zuerkennt , erste große und zusammenhängende Bestecksätze. Eine rasante Kultivierung der Tischsitten folgte, nicht zuletzt, da man hier ganz neue Entfaltungsmöglichkeiten von Macht und Anspruch aufzeigen konnte, so dass bereits 100 Jahre später, also im Biedermeier, ein gutes Silberbesteck schon ganz selbstverständlich zur Aussteuer einer großbürgerlichen Braut gehörte.
Verbunden mit dem bürgerlichen Aufstieg durch die Industrialisierung fanden nun die neuen, nicht, oder noch nicht geadelten Fabrikbesitzer hier ein im wahrsten Sinne des Wortes „ausbaufähiges“ Steckenpferd vor. Nach aristokratischem Vorbild wurden zwischen 1880 und 1915 zahllose Besteck-Entwürfe realisiert, von Renaissance–Designs bis zu floralen Jugendstilkompositionen. Hinzu kamen immer mehr Sonderbestecke, deren Sinn sich der heutigen Betrachtung von selbst gar nicht mehr erschließt, unter ihnen ist das Fischbesteck noch das bekannteste: Austernzangen, Orangenschäler, Sardinenheber, Eis-Sicheln, Markspieße und Maibowlenkellen sind nur eine Auswahl der exotischen Esswerkzeuge aus dieser Zeit.
Und heute? Durch Weltkriege und 68er war Tafelsilber lange in Vergessenheit geraten und nur bei Großmüttern und „den Tanten“ und auf so manchem Flohmarkt irgendwie noch da – benutzt wurde es aber eigentlich nie, oder nur zu Weihnachten – und dann auch nur, wenn unsere Mutter den Silberputzlappen griffbereit hatte.
Derart stiefmütterlich behandelt, wollte es also keiner der nächsten Generation so recht haben. Umso mehr freute sich meine Tante Ella über alle Maßen, als Sie mir die große Truhe mit den beschrifteten Schubladen zum Examen in Kunstgeschichte schenken konnte. Zwei lange Tage saß ich euphorisiert mit Putztuch und Politur in die Küche. Das Ergebnis: abgesehen vom Muskelkater im rechten Oberarm ein tadellos strahlendes und komplettes Besteck, auf dass nun doch alle auch ein wenig neidisch sind.
Denn die Zeiten haben sich geändert, Tischkultur ist wieder ein Thema und gemeinsames Kochen ist – vielleicht als Gegenbewegung zum Fastfood der letzten Jahre – ein beliebtes Hobby junger Akademiker geworden. Und die verstehen natürlich sofort: Hier liegt Geschichte auf dem Tisch. Abgesehen vom realen Wert des Silberbestecks liegt der Wert im pars pro toto – das einzelne Silberlöffelchen ist ein Teil der europäischen Geschichte, vom Adel zum Bürgertum, gerettet durch die Weltkriege, von der Großmutter aufbewahrt und über Generationen weitergereicht.
Auch ohne das feudale Speisezimmer und die entsprechenden Räumlichkeiten erzählt es von vergangenem Glanz und rauschenden Festen.
Vielleicht ist dies eine Antwort darauf, warum es sich doch ganz entschieden lohnt, weiterhin den Polierlappen zu schwingen: Um eine schöne Geschichte weiter zu erzählen, von Beständigkeit, herrlichen alten Damen in ihrer Beharrlichkeit und davon, dass manchmal auch Kleinigkeiten und Details die Wirkmächtigkeit einer ganzen Epoche heraufbeschwören können.