Wir wollen mit diesem Krimi beginnen, weil wir ihn bisher zu wenig gewürdigt hatten und über die heutigen Bestplazierten in der Dezemberbesprechung die Details nachzulesen sind. Ulrich Ritzel, ein Pforzheimer vom Jahrgang 1940, läßt erneut seinen ausgedienten Kriminalbeamten Hans Berndorf tätig werden, der für einen Strafverteidiger Recherchen nach dem letzten Liebhaber einer Ermordeten anstellen soll, für deren Tod nun der Ehemann belangt wird, weil die Behörden mit Weisung aus dem Stuttgarter Innenministerium diesen Untersuchungsstrang einfach kappten. Am Schluß war es dieser auch gar nicht, sondern sozusagen der Gärtner, aber in welcher Weise hier eine Kumpanei zwischen Politik, Polizei, Gerichtsbarkeit und auch noch Medien dargestellt wird, wirft ein Licht auf die Bundesrepublik, das äußerst weh tut, gerade deshalb, weil es absolut glaubhaft ist. Privatdetektiv Berndorf allerdings geht genau davon aus und dazu auch noch von einem Weiterleben der nationalsozialistischen Bande in die heutigen Honoratioren und Verwaltungen, weshalb ihn die Rückgabe eines damals geklauten jüdischen Schmuckstückes auch fast mehr interessiert als die Verfolgung des Täters. Gespenstisch.
Dieser Roman geht über einen Kriminalroman weit hinaus, weil er deutsche Geschichte, sowohl das Dritte Reich wie auch die prosperierende Bundesrepublik im Süddeutschen, in einer Bodenständigkeit, Enge und Demokratiegefährlichkeit beschreibt, daß einem schlecht werden könnte. Mag sein, daß dieser Aspekt den Krimijuroren zu deutlich wurde. Wir auf jeden Fall empfehlen diesen Roman ausdrücklich besonders, einfach weil er etwas Besonderes ist und Regionalgeschichte in die große Geschichte einbettet. Alles fängt nämlich klein und irgendwo an. Das kann man propädeutisch in diesem Werk nachvollziehen. Ansonsten können wir die weitere Aufwertung – vom sechsten auf den 2. Platz – von Gerard Donovans „Winter in Maine“, erschienen im Luchterhand Verlag, absolut nachvollziehen. Das ist ein unglaublich gut geschriebenes Buch, ein Krimi nur am Rande. Wie einen der Autor für einen Mann zu interessieren beginnt, den man im realen Leben nicht mal anschauen täte, zeigt, welche Wirkung Schreiben haben kann.
Nun gut, es kann nicht jeder gute Krimi die ersten drei Plätze einnehmen. Das sehen auch wir ein, aber daß „Der Assistent der Sterne“ von Linus Reichlin vom Verlag Galiani vom dritten auf den sechsten Platz fiel, schmerzte uns, denn wir hatten den Roman mit wachsendem Staunen gelesen, in welche geistigen Höhen sich heute Kriminalromane aufschwingen. Nicht nur der Mathematik wegen, der fehlenden und als Kompetenz bei Physik vorausgesetzten, sondern auch all der Zwischenschichten zwischen Himmel, Mensch und Hölle. Gewichtig auf Platz 5 bleibt Heinrich Steinfest mit „Gewitter über Pluto“ aus dem Piper Verlag. Wie Lorenz Mohn vom „Meister der Liebe“, der käuflichen nämlich, zum „Meister der Wolle“ ,ebenfalls käuflich, wird, und was dann alles passiert, das geht, wollten wir eigentlich schreiben, über einen Kriminalroman weit hinaus. Aber ein solches Prädikat kann man heute jedem zweiten Krimi anheften, wird also wieder einmal Zeit, sich zu besinnen, was ein Krimi ist, wo es heute so viele Krimis mit Mehrwert gibt.
Auch „Einfache Gewitter“ von William Boyd aus dem Berlin Verlag paßt hier ins Bild. Und er heißt noch nicht einmal Kriminalroman, sondern nur Roman. „Einfache Gewitter vermögen es, sich zu Multizellen gewittern von unbegrenzter Komplexität auszubauen“. Was dann mit dieser Entladung passieren kann, kann sich sozusagen jeder vorstellen. Hier führt sie für Adam Kindred in die Anonymität, denn ein Toter, den er nicht tötete, wird ihm auf Grund der äußeren Gegebenheiten als Mörder untergeschoben werden, weshalb Flucht aus dem bisherigen Leben die einzige lebenserhaltende Reaktion erscheint. Aber eine mörderische. Der in Ghana geborene William Boyd ist einfach ein sehr guter Erzähler.
Zeit, etwas über die Neuen zu sagen, so ist es Brauch. Und auch wenn wir uns über die zweifache Nominierung von Pulp Master besonders freuen, von denen wir vor Jahren die extravaganten Krimis besprachen, so haben wir die neuen noch nicht gelesen und können nur weitersagen, daß „Nazi Paradise“ von Angelo Petrella und direkt auf den vierten Platz ins Milieu der Skinheads und Hooligans entführt, ja Sündenpfuhl Neapel ist auch dabei und der Ich-Erzähler hat mit jedem Ärger, weshalb er durch die Polizei leicht erpreßbar wird und zum Hacken eingesetzt. Das macht er nicht ganz so gut wie Stieg Larssons Lisbeth Salander, die ja unsichtbar bleibt, aber gut genug, damit aus dem Vorgang eine Explosion wird. Auch über die Nummer 9, „Dunkler Gefährte“ von Jim Nisbet, wissen wir wenig, erinnern uns aber an seine „Tödliche Injektion“ vor zwanzig Jahren, wo er sich als typisch amerikanischer cooler Autor auszeichnete.
Bleibt auf Platz 8 diesmal neu „Camorrista“ von Giampaolo Simi. Natürlich geht es um die neapolitanische Mafia, die seit Roberto Savianos „Gomorrha“ in aller Munde ist und gerade einem ebenfalls darüber schreibenden italienischen Richter, Raffaele Cantone, in Frankfurt ein großes Publikum bescherte und das nächste Mal werden wir diesen neuen Camorra-Roman auch vorstellen.
Die „Bestenliste“ wird normalerweise im Hörfunk immer am letzten Wochenende des Monats: Samstag 8.05 – 9.00 Uhr; Sonntag 15.05 – 16.00 Uhr in der „Literaturzeit“ des NordwestRadio vorgestellt. Aber zum Jahreswechsel wurde dies vorgezogen auf den 24. 12. 2009. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem letzten Samstag im Monat (diesmal als Weihnachtsgeschenk) geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
Die Jury setzt sich zusammen aus:
Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt Volker
Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, Berg, „Druckfrisch“, Dlf, BR
Sven Boedecker, Zürich, Sonntagszeitung
Kathrin Fischer, Frankfurt/Main, Hessischer Rundfunk
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Thomas Klingenmaier, Stuttgart, Stuttgarter Zeitung
Ekkehard Knörer, Berlin, Perlentaucher, Crime Corner
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Jochen Schmidt, Düsseldorf, elder critic
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau
Hendrik Werner, Bremen, DIE WELT
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist Freitag, Plärrer
Alle weiteren plazierten Krimis entnehmen Sie bitte den Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur.Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Dreimal darf ein Buch einen Platz bekommen, dann scheidet es aus und hat nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die diesmal Ende Januar herauskommt.