Die hoch gespannten Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Es gab frenetischen Beifall, Bravo-Rufe und Standing Ovations im Haus der Berliner Festspiele, obwohl Alles doch ganz anders war als erwartet.
Malgorzata Szczesniak hat ein atmosphärisch kühles Bühnenbild geschaffen. Im Hintergrund eine Zeile verglaster Nasszellen, die auch nach vorn fahren kann, darunter die Bowlingbahn, auf der Stanley Kowalski seine Feierabende verbringt, und vorn eine Wohnlandschaft, das Zuhause des polnischen Einwanderers Stanley und seiner Frau Stella in New Orleans. Die Einrichtung ist spärlich, vermittelt aber nicht den Eindruck schmuddeliger Armut. Hier strandet Stellas Schwester Blanche, nachdem sie das elterliche Gut und auch ihre Arbeit als Lehrerin verloren hat.
Der international tätige polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski erzählt nicht chronologisch. In seiner Inszenierung ist alles schon geschehen, taucht wieder auf als quälende Erinnerung von Blanche, die sich festgefahren hat in ihren traumatischen Erlebnissen, in sie eingesperrt ist wie in einen Teufelskreis.
Zu Beginn sitzt Blanche auf einem Drehhocker in einer der Nasszellen und spricht mit Stella, die aus einer anderen Nasszelle antwortet. Isabelle Huppert ist bekleidet mit einer schwarzen Korsage, hinter Glas zur Schau gestellt wie eine Prostituierte. Sie windet sich qualvoll auf ihrem Hocker, kratzt sich, während sie schwer verständliche Worte aus sich heraus würgt. Huppert bietet den Anblick einer zerstörten Frau, die keine Gewalt mehr hat über ihre Gliedmaßen, und deren Körper sich in seine Einzelteile aufzulösen droht. Hinter ihr erscheint ihr Bild verzerrt in einer Videoeinspielung.
Dieses Ende, dieses Fluidum von Verlorensein und auswegloser Einsamkeit, lässt Isabelle Huppert während des ganzen Stücks spüren, auch wenn sie scheinbar fröhlich drauf los plappert, sich in Hoffnungen auf eine bessere Zukunft hineinsteigert oder herrschsüchtig die Überlegene spielt.
Isabelle Huppert ist eine Meisterin der Sprachgestaltung, und es ist ein unbeschreiblicher Genuss ihr zuzuhören, wenn sie Worte in rasendem Tempo melodiös zum Klingen bringt, sie müde dahin schleppen lässt oder sie prätentiös akzentuiert abschießt wie Pfeile. Immer spricht Huppert mit ihrem ganzen Körper, jede Stimmung, jeder Gedanke kündigt sich zuerst durch ihre Gestik und Mimik an, und ihr Schweigen ist immer ausgefüllt von gedanklicher Spannung.
Hupperts Blanche ist eine tief tragische, erschütternde Persönlichkeit, die dennoch kein Mitleid hervorruft. Sie ist so eingesponnen in sich selbst, dass Anteilnahme sie offenkundig nicht erreichen kann, eine durch Depressionen lahm gelegte Frau, die jeden Zugang, sowohl zu anderen Menschen als auch zu sich selbst, verloren hat. Sie überspielt ihre innere Leere, flüchtet in Rollen, versteckt sich in den neckischen oder eleganten Kleidern von Yves Saint Laurent und Christian Dior. Alles, was diese Blanche sagt und tut ist aufgesetzt und unwahr. Und doch, und das ist eine wahrhaft geniale Leistung von Isabelle Huppert, ist hinter dieser künstlichen Fassade die authentische Blanche noch spürbar, noch lebendig, auch wenn sie nicht mehr in Erscheinung treten oder sich mitteilen kann.
In Krzysztof Warlikowskis Inszenierung steht Blanche ganz allein im Zentrum des Geschehens. Alle anderen Personen sind Randfiguren. Das ist bedauerlich, denn neben Isabelle Huppert stehen großartige Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne.
Andrzej Chyra ist ein hervorragender Stanley Kowalski, der bildungsfeindliche, brutale Prolet. Er führt in dieser Produktion ebenso ein Schattendasein wie Florence Thomassin als Stella, Blanches Schwester, die sich durch ihre Heirat weit unter das Niveau der vornehmen Südstaatler begeben hat, dem sie entstammt.
Yann Collette als Mitch, Stanleys Freund, der Blanche heiraten will, weil er sie für die tugendhafte Lady hält, die sie ihm vorspielt, diesen Plan jedoch aufgibt, nachdem Stanley ihn über Blanches unrühmliche Eskapaden aufgeklärt hat, ist eine skurrile Erscheinung. In Blanches Phantasie wird er zu dem alten Mann, den sie mit ihrem schönen, angebeteten Ehemann tanzen sah. Blanche begriff, dass ihr Mann homosexuell war, und der beging Selbstmord. Von dieser quälenden Erinnerung wird Blanche seither verfolgt.
Renate Jett spielt die Nachbarin Eunice und moderiert zugleich als mitreißende Sängerin das Bühnengeschehen.
Um die Liebe und die tragischen Missverständnisse zwischen Männern und Frauen sei es ihm in seiner Inszenierung gegangen, sagte Warlikowski beim Publikumsgespräch.
Zu diesen Themen singt Renate Jett Pop- und Folksongs sowie eine Pop-Version von Monteverdis „Combattimento di Tancredi e Clorinda“.
Neben den musikalischen Einlagen sind in den Text Passagen der Weltliteratur eingefügt. Plato und Sophokles werden zitiert und die Geschichten von der Kameliendame und Salomé zu Gehör gebracht.
Auch wenn Isabelle Huppert das Schicksal der Kugelmenschen, die von Zeus in zwei Hälften zerschlagen wurden, wundervoll anschaulich macht, ist das Stück mit so schwer wiegenden Bildungsgütern deutlich überfrachtet und erweckt, in so erhabener Gesellschaft, einen eher dürftigen Eindruck.
„Un Tramway“ nach „A Streetcar Named Desire“ von Tennessee Williams wurde im Februar 2010 am Théatre de l’Odéon uraufgeführt. Die Deutschlandpremiere fand im Rahmen von spielzeit’europa im Haus der Berliner Festspiele statt, dort zu erleben am 20., 21. und 23.-25.11.2010.