Rostock, Deutschland; Hanko, Finnland (Weltexpress). „Wie bitte, mitfahren wollen Sie?“, wird man barsch angeschnauzt, „ohne Anmeldung kann ich Sie hier nicht reinlassen!“ Die Ampel am Südtor des Rostocker Hafens bleibt rot. Wir, zwei Kollegen, zeigen FINNLINES-Tickets und Ausweise vor, nützt nichts, der Mann bleibt hart. Unseren Einwand, dass nichts alternativlos sei, wischt er mit den niederschmetternden Worten weg: „Dann fahren Sie mal wieder nach Stralsund!“ Letzter Versuch: ob er denn nicht den Kapitän kontaktieren könne. „Hab´ die Nummer nicht“, wird man kurz beschieden, „aber ein Reederei-Vertreter müsste im Terminalbüro sein“, erwidere ich. Der meldet sich tatsächlich und gibt nach einigem Hin und Her grünes Licht – im doppelten Wortsinn. Aufatmen, soweit.
Nach ein paar hundert Metern holpern wir über die autobahnbreite Heckklappe in den taghell erleuchteten Bauch des für rollende Ladung gebauten Spezialfrachters FINNSKY. Ein Mann weist uns per Handzeichen ein: ans Ende einer Kolonne von Neuwagen, die man daran erkennt dass deren empfindliche Teile mit weißer Folie beklebt sind. Endlich angekommen! Kurze Begrüßung durch einen Mann, der sich als Erster Offizier herausstellt und unsere Ausweise kassiert. Wir schnappen unsere Taschen und suchen den Aufgang zum Wohndeck. Damit sind wir Paxe oder Passagiere. FINNSKY wird damit quasi zum RoPax-Schiff. Auf der mit etwas mehr als 500 Seemeilen und 28 Stunden kürzesten Route zwischen Deutschland und Finnland.
Exklusiver Parkplatz
Plötzlich Reifenquietschen hinter uns, ein Mann springt aus seinem PKW und fordert uns auf: „Ihren Wagen runter vom Schiff und dann mitkommen!“ Völlig perplex steigen wir ein und fahren zurück an Land in ein Bürogebäude. Ob ich einen Überweisungsbeleg habe? Natürlich nicht, nur meine Frau auf ihrem PC. Zum Glück schläft sie, anders als sonst, um 23 Uhr noch nicht. Der Terminalmann und sie tauschen E-Mail-Adressen aus, bis der Zahlbeleg für die Passage bei ihm eingegangen ist. Ein Prozedere, das wir als erfahrene Seereisende so noch nie erlebt haben. „Ein Glück, dass ihr früher losgefahren seid“, sagt meine Frau und wünscht uns eine gute Reise. Wir werden wieder an Bord gefahren, müssen aber unseren Wagen umrangieren. Zwei Decks höher landen wir auf dem offenen Wetterdeck direkt vor den Aufbauten: ein exklusiver Parkplatz! Und kein langer Weg, um das Gepäck in unsere Kabinen zu schaffen, über denen ein Schild angebracht ist mit dem Wort DRIVER. Gemeint sind natürlich Fernfahrer, die in ihren Türen stehen und sich unterhalten. Als alles verstaut ist, gönnen wir uns erst mal einen Schluck, um die Schrecken des Ausreise-Dramas der vergangenen zwei Stunden zu verdauen. „So ist das“, sinniert der Kollege, „wenn man nicht den normalen Fährweg nimmt.“ Aber wir wollten es so, um den schwimmenden Laster-Highway zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Südfinnland kennenzulernen.
Großer Markt Ostblock
Gegen zwei Uhr grummelt es aus der Tiefe: Die Maschinen sind angesprungen. Es geht los, doch wir lassen uns nicht stören und verschlafen das Auslaufen. Erst nordöstlich von Bornholm werden wir wach. Nebenan schlürfen zehn Trucker ihren Morgenkaffee und starren dabei auf den Breitwand-Bildschirm. Russisch dominiert in den Gesprächen. Die Jungs stammen aus Weißrussland, Russland und der Ukraine. Politik ist allerdings an Bord allgemein tabu. Hier sitzen alle einträchtig beieinander, ob nun Esten, Polen, Litauer und ein Niederländer. Letzterer ist unterwegs zu einer Werft, um zwei Yachten abzuholen, die später von Bremerhaven per Schiff in die USA transportiert werden sollen. „Das ist ein großer Markt“, weiß er, „so viel wie ich mit den Dingern durch Europa fahre, häufig auch in den Ostblock.“ Sein Tischkollege kommt aus der Nähe von Rostock. Sie tauschen sich aus, vor allem über die Vorzüge und Nachteile ihrer vielhundert PS-starken Sattelzugmaschinen. Die sind Fortbewegungsmittel und Zuhause zugleich. „Manchmal für Wochen“, berichten beide. In Nordfinnland sei es jetzt nicht gerade angenehm für so ein Berufs-Camping. Die Wetter-App zeigt dort knallharte – 35 Grad an und Schneestürme. „Und wenn du nach Süden fährst, wirst du trotz Klimaanlage gebraten“, meint der Deutsche, der auch Südfrüchte und Gemüse aus Spanien oder Marokko nach Meck-Pomm karrt. „Abgesehen von den Straßenräubern“, schüttelt der Holländer den Kopf, „mit denen du da rechnen musst, im Norden zum Glück nicht.“ „In Russland ist das ja auch endlich vorbei“, freut sich der Mecklenburger.
Glücklichstes Volk der Welt
„Hyvää huomenta – guten Morgen!“ grüßen wir in die Crew-Messe, vernehmen aber nur ein freundlich-vielstimmiges „good morning!“ von den mit ihrem Frühstück beschäftigten dunkelhäutigen Männern. Sie stammen, wie sich schnell herausstellt, nicht aus Finnland, sondern von den Philippinen. Der einzige, der sich über unseren landessprachlichen Versuch freut, lächelt darüber: Jari Kujansuu ist waschechter Finne und Erster Offizier der FINNSKY.
„Kent Dahl“, stellt sich ein weiterer Mann am Tisch vor, „I am the captain and from Sweden.“
Während wir am Büffet stehen, das die singende Chefköchin Jennelyn und ihre Stewardess-Kollegin Cherry zusammengestellt haben, erfährt man mehr über den Mann und seinen „Dampfer“. Der FINNLINES-Haudegen, der von der Pike auf angefangen hat, ist schon elf Jahre bei der Reederei, die einst halbstaatlich war und jetzt zum italienischen Grimaldi-Konzern mit 130 Schiffen gehört; das ermögliche zum Beispiel bei Streiks wie kürzlich in den finnischen Häfen eine hohe Einsatz-Flexibilität. Rund 1600 Menschen arbeiten weltweit für die Finnlines-Gruppe. „Sie tut viel, um Leute zu halten und zu gewinnen“, erklärt er, „vielleicht fühlen sich finnische Seeleute hier besonders wohl.“ Was auch daraus herzuleiten wäre, dass die Finnen „das glücklichste Volk der Welt“ seien. Sie fahren auf Schiffen, die ihnen viele Annehmlichkeiten bieten: von der Sauna über heimisches Fernsehen und Internet bis zu Fitnesgeräten samt guten Mobilfunk-Verbindungen in der Ostsee. Abgesehen vom guten Essen, das schnell zu Rundungen führen kann. „Doch auf die Mahlzeiten freut man sich immer“, gibt der Master zu, „denn das sind angenehme Tagesunterbrechungen, auch wichtig für die Kommunikation.“ Wobei die Europäer „nur“ jeweils drei Wochen an Bord und drei zu Hause sind. Die Asiaten müssen sechs Monate ausharren. Dahinter stecken hohe Flugkosten für die Ablösung.
From road to sea
MS FINNSKY und ihre fünf Schwestern, die allesamt um 30 auf 217 Meter verlängert wurden, bieten nicht nur höchste Umweltstandards wie zum Beispiel Scrubber und Bilgenwasseraufbereitung. Die kürzeste Route ab Deutschland spare auch Sprit. 2,8 Tonnen Dieselöl werden bei 80 Prozent Maschinenleistung pro Stunde verbraucht, 67 Tonnen in 24 Stunden. Eine Umstellung auf alternative Treibstoffe wie Methanol ist möglich, aber noch in der Diskussion. Chief-Ingenieur Harri Polluaar und sein philippinischer Kollege Ysmael Mendoza führen ihren blitzenden Maschinenraum stolz vor. Anschließend besprechen sie den Arbeitsplan für den Aufenthalt in Hanko. Von wegen Landgang… „allenfalls, um mit dem bordeigenen Firmenwagen schnell mal in der Stadt etwas zu besorgen“, schränkt der estnische Zweite Ingenieur Viljar Kikkerpuu ein.
Oben sorgen sechs Decks, zwei davon verschiebbar, dafür, dass, falls notwendig, mehr Neuwagen transportiert werden können. Oder umgekehrt insgesamt bis zu rund 300 Trailer, die Hauptladung, die von Jahr zu Jahr zunehme, wie man vom Kapitän hört. Eine enorme Entlastung der Straßen im Sinne des Grundsatzes „from road to sea“. Die Trucker sind froh darüber, dass Ihnen über 1000 und mehr ermüdende Kilometer hinterm Lenkrad erspart bleiben. An Bord können sie vor allem eins: ungestört lange schlafen. Jurij ist zwar als Ex-Fallschirmjäger ein harter Hund, „aber auch der braucht mal Ruhe“, grinst er und schlürft sein Bier aus der Büchse. Vor ihm liegt eine vierwöchige Tour quer durch Europa. In Lübeck soll er auf dem Heimweg eine sperrige Baumernte-Maschine laden und in den karelischen Wäldern abladen. Von zwei jungen Männern erfährt man, dass sie aus Brüssel kommen und das Umzugsgut eines finnischen EU-Pensionärs rücküberführen. „Ein gutes Geschäft“, lächeln sie wissend um hohe Vergütungen.
Pünktlich, sogar fünf Minuten vor der Zeit, drückt Kapitän Kent Dahl den 33.000-Tonner zentimeterweise sanft rückwärts an die Rampe in der kleinen Hafenstadt mit der großen Geschichte aus schwedisch-russisch-finnischer Zeit. Einen Lotsen braucht er selbst hier im Schärenmeer nicht, denn aufgrund einer Prüfung nach vielen Fahrten ist er befreit davon und spart damit auch Geld ein.
Es kann losgehen
Wir könnten noch am selben Tag mit zurückfahren, entscheiden uns aber dafür, zwei Tage zu bleiben: Helsinki und die malerische Wald-Fels-Seen-Umgebung locken viel zu sehr.
Rechtzeitig vor dem für Südfinnland angekündigten Wintereinbruch brechen wir auf zur Rückfahrt nach Rostock. Am Hafenschlagbaum von Hanko bedrückt uns die bange Frage: Wird er aufmachen? Statt Schnauzton vernehmen unsere traumatisierten Ohren aus dem Sprechfenster ein freundliches „Terve – hallo!“, als ich das FINNLINES-Papier vorzeige. „Kiitos – dankeschön!“ und die Barriere hebt sich wie von Geisterhand. Ungehindert von Mensch oder Bürokratie nehmen wir Kurs auf „unser“ Schiff. FINNSEA Helsinki steht weiß auf blau am Heck. Mit Schwung nehmen wir die Rampe. Genau abgepasst: zwischen zwei Trailern mit röhrenden Zugmaschinen hindurch. Der „Anwohner“-Parkplatz auf dem Wetterdeck scheint schon reserviert zu sein.
Kapitän Michael Jildholt, auch er Schwede, hat uns schon erwartet: „Willkommen!“ Wir richten Grüße seines FINNSKY-Kollegen aus, der den damaligen Ersten Offizier Michael ausgebildet hat. „Wir wollen heute ein bisschen früher auslaufen“, informiert er uns, „dann könnt ihr auf die Brücke kommen.“ Tabuzonen gebe es hier für uns nicht, wenn man den Sicherheitscode kennt.
Die Heckklappe schließt sich träge, es kann losgehen. FINNSEA erzittert. Mit auf der Brücke dabei ist auch Erster Offizier Juha-Matti Hautanen. „Wir wechseln uns bei Manöverfahrt ab“, erklärt Michael. Das sei wichtig bei einem Notfall, „da muss auch der Stellvertreter alles beherrschen.“ Eine Haltung, die leider nur selten praktiziert wird. Juha-Matti aus der nordfinnischen Hafenstadt Oulu ist ein erfahrener Seemann, der das zu schätzen weiß.
Steaks satt und Karaoke
In langsamer Fahrt schiebt sich der Frachter um die gefährliche Ecke der Hafenausfahrt in die Fahrrinne. „Mit Seitenwind und Strömung kann das hier bei unserer riesigen Segelfläche recht problematisch werden“, weiß Michael aus Erfahrung, „da muss man manchmal sogar einen Schlepper anfordern.“ Auch er ist aufgrund Erfahrung und Prüfung lotsbefreit.
Langsam steigert er die Fahrtstufen. Mit 18,9 Knoten geht es nach Südwesten auf Gotland zu. Das Schiff hat gerade eine Inspektion mit Bravour überstanden und Taucher haben ihm wie allmonatlich den Rumpf von Seegras gereinigt. „Das spart Sprit“, ist er zufrieden, „hat man doch alles darauf abgestellt, hier einzusparen und CO2 zu reduzieren.“ Auch die Trimmung – wie das Schiff im Wasser liegt – sei wichtig dabei, ebenso eine Unterwasserfarbe mit silikonähnlichen Eigenschaften für geringeren Widerstand und ein moderner Wulstbug samt schlankerer Nase.
Dann übernimmt Zweiter Offizier Neil Reyes seine reguläre Wache, während wir uns wie alle anderen auf das Abendessen, kulinarischer Höhepunkt der Woche, freuen dürfen: Steaks satt, Pommes, Salate, Blumenkohlsuppe, Rot- und Weißwein, Eiskreme.
In den beiden Saunen herrscht Hochbetrieb. Kein finnisches Schiff ohne diese Kulteinrichtung!
Von der philippinischen Crew bekommen wir abends eine Einladung: zum Karaoke-Singen. Liebe und Sehnsucht auf Palmeninseln dominieren das Wettbewerbs-Programm. Woraus die Chefköchin als ungekrönter Star siegreich hervorgeht. Beifall ist ihr gewiss.
Finale Kapitänsworte
Als sich am nächsten Vormittag die dänische Felseninsel Bornholm voraus abzeichnet, erzählt Kapitän Michael: „Wir haben die Methan-Gasblase nach der Nordstream-Explosion gesehen: bis zu fünf Meter hoch war sie. Wenn da ein gleich großes Schiff reinfährt, kann es untergehen, denn das Gas hat nur eine geringe Dichte und verhindert den Auftrieb.“ Das erinnert an den aktuellen Film „Der Schwarm“, wo genau das passiert.
Südwestlich der Insel ein anderes röhrenbedingtes Spektakel: Dort liegen mehrere Supertanker vor Anker, die Embargo-Öl aus dem russischen Primorsk umladen, als embargofrei deklarieren und damit problemlos weitertransportieren können. „So wird das umgangen“, bemerkt ein russischer Fernfahrer grinsend.
Zum Sonnenuntergang steuert FINNSEA den Seekanal von Rostock an. Nach einer nicht unkomplizierten Drehung auf dem Teller dirigiert Michael das träge Schiff mit nur einem zentimeterhohen Joystick sanft rückwärts um die Ecke an die Rampe. Parallel zur Scandlines-Fähre Mecklenburg-Vorpommern. Wobei über Walkie-Talkie der Anlege-Countdown des Zweiten Offiziers Jonathan Fernandez am Heck zu hören ist: „four, three, two, one meter“. Die finalen Kapitäns-Worte lauten dann nur noch: „On position – auf Position!“ Absolut pünktlich.
Wie zur Belohnung durchflutet die Sonne mit ihrem goldenen Licht die weitläufige Brücke. „Ende der Seereise“ notiert Kapitän Michael Jildholt vorschriftsmäßig die knappen und völlig unromantischen Worte im Schiffstagebuch. „Ab jetzt herrscht wieder die Bürokratie“, meint er achselzuckend und zieht einen Ordner aus dem Regal.
Schiffsinformationen
MS FINNSKY (FINNSEA 2011: FINNBREEZE 2011, FINNSUN 2012, FINNTIDE 2012, FINNWAVE 2012); Typ: RoRo-Frachter; Werft: Jin Ling Shipyard, Nanjing, VR China; Baujahr: 2012; BRZ: 33816, tdw: 14500 t, Displacement: 22125 t; Länge: 217,8 m, Breite: 26,5 m, Tiefg. (max.): 6,80 m; Hauptmaschinen: 2 x Wärtsila 8L46F, 2 x 10000 kw; Geschwind. (max.): 21 kn; Eisklasse: 1A; Hilfsmaschinen: 2 x Mitsubishi Total je 2080 kW; Propeller: 2 (je 5 m Durchm.); 2 Bugstrahlruder: TT2000AUX CP je 1100 kW; TEU: 398; Crew: 17 – 20; Lademeter (RoRo): 3326 m; PKW-Kapazität: 1 x 2753 m2 (1,70 m Höhe), 1 x 2875 m2 (1,90 m Höhe); Reederei: Finnlines/Grimaldi Group; Heimathafen: Helsinki; Flagge Finnland