Die Zahl der Orchester ist von 1992 bis 2012 von 168 auf 132 geschrumpft, um 21,5 Prozent. Nicht anders steht es bei den festangestellten Orchestermusikern. Deren Zahl sank von 12 159 auf 9 844, um 19 Prozent. Die vor einigen Jahren beschworene magische Grenze von 10 000 Stellen ist bereits 2010 unterschritten worden. Besonders krass ist der »Schwund« bei den Orchestern der Neuen Bundesländer. 1992 gab es 72 Orchester mit 5 032 Musikern. Davon blieben 42 Orchester mit 3 230 Stellen übrig. Abgewickelt wurden 1 802 Musiker = 35,8 Prozent. Das ist die Stärke von 20 großen Orchestern. Im Westen sank die Anzahl der Musiker um 513 gleich 7,2 Prozent.
Der Anteil der ostdeutschen Musiker betrug 1992 41,4 Prozent, aber 2012 nur noch 32,8 Prozent, der Anteil der Orchester sank von 42,9 auf 31,8 Prozent. Das ist kennzeichnend für die Zerschlagung einer Theater- und Orchesterlandschaft, die laut Einigungsvertrag geschützt werden sollte. Nach Ansicht der neoliberalen Politiker und Manager ist es »der Markt«, der das ganz gesetzmäßig selbst regelt. Das könnte man noch annehmen bei den Orchestern der alten Bundesländer, wo diese Gesetze auch vor 1990 galten. Doch es gab in beiden Staaten eine Kulturpolitik, die von unterschiedlichen Grundsätzen der Gesellschaftspolitik determiniert wurde. Der Einfluss der Haushaltspolitik war im Wesen entgegengesetzt. Während der Kulturetat in der Bundesrepublik der Haushaltspolitik untergeordnet war, wurde der Kultur in der DDR bei der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft eine Bedeutung beigemessen – Bildung und Kultur sollten den neuen Menschen prägen -, die maßstabsetzend für den Kulturetat war. Nun hat der Kapitalismus beide Territorien in seiner Gewalt, und ohne Skrupel ließen nun Bundes- und (meist CDU-dominierte) Landespolitiker den »Marktgesetzen« freien Lauf.
Das Räderwerk steht jedoch nicht still. Von Fusion bedroht sind das Orchester der Landesbühnen Sachsen/Radebeul und die Neue Elblandphilharmonie Riesa/Pirna mit 61 bzw. 47 Musikern. Der Landesrechnungshof Mecklenburg-Vorpommern hält es für zweckmässig, die vier noch bestehenden Orchester (1992 acht) zu zweien zu »vereinigen«. Kulturpolitik im Auftrage eines Finanzkontrollorgans! Im November 2011 wurde das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin gerade noch mit einer Zwischenfinanzierung von 500 000 Euro vor der Insolvenz gerettet. Das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera soll von 78 um weitere 20 Orchesterstellen gekürzt werden. Seit ihrer Zusammenlegung im Jahre 2000 schrumpfen sie gemeinsam von 149 auf 58 Stellen – auf fast ein Drittel. Über Jahre haben die Musiker auf einen Teil des Gehalts verzichtet. Es hat ihnen nichts genützt. Ähnliche Gefahren gibt es in Schleswig-Holstein, wo die Unterfinanzierung des Landestheaters auch die Existenz des Schleswig-Holsteinischen Sinfonieorchesters bedroht (59 Musiker). Aus der Statistik gelöscht wurde 2012 das Brandenburgische Konzertorchester Eberswalde, weil es nur noch 7 (in Worten sieben) festangestellte Musiker hat (2006 noch 21). Das sind die »Mengenangaben«.
Mehr unter der Oberfläche laufen qualitative Prozesse ab, von denen die Zahlen nur eine Ahnung vermitteln. Von Sparzwängen bedroht, greifen die Theater- und Orchesterleitungen zu »freiwilligen« Rationalisierungsmaßnahmen. Freie Stellen werden nicht besetzt. Waren das im Jahre 2008 noch 493 Stellen, so wuchs ihre Zahl bis 2012 auf 705 an. Das sind sieben Prozent der etatmäßigen Planstellen. Zum einen bleiben auf diese Weise viele gut ausgebildete junge Musiker ohne feste Anstellung. Zum anderen werden sozialer Status und soziale Struktur der Orchester untergraben. Die Lücken werden zeitweilig geschlossen mit Stipendiaten der Orchesterakademien, mit »Praktikanten« und freischaffenden Musikern, zum Teil mit Teilzeitstellen. Die werden als billige Aushilfen mißbraucht, wie die DOV beklagt. Und die nachwachsende Musikergeneration hängt mehr oder weniger als billige Reservearmee in der Luft. »Die Orchester bröckeln am Rand«, stellt Gerald Mertens, Geschäftsführer der DOV, fest. Viele Orchester leben nur noch mit einer Kernbesetzung und mehr und mehr mit Aushilfen und Verstärkungen, was der künstlerischen Qualität nicht förderlich ist. Am gefährlichsten ist die Nichtbesetzung der logischerweise bestbezahlten Solostellen, die das künstlerische Niveau prägen.
Wie die rein ziffernmäßige Veränderung auf die künstlerische Qualität wirkt, wird am Beispiel der zur Fusion gezwungenen Neuen Elbland Philharmonie Riesa/Pirna und des Orchesters der Landesbühnen Sachsen/Radebeul deutlich. Von insgesamt 108 Stellen will das Land Sachsen noch 72 übrig lassen, während die Orchester 86 für unentbehrlich halten. Der Plan der Staatsregierung würde dazu führen, dass das Orchester nicht mehr »zweigleisig« spielen kann, das heißt, am selben Tage Oper und Sinfoniekonzert, bei einem Territorium von Torgau bis Pirna. Die Überflüssigen sollen sozialverträglich abgebaut werden, »wo es am wenigsten wehtut«, wie es ein DOV-Vorstand nennt. Die Folge: der »Schnitt« stimmt nicht mehr; die Struktur der verbleibenden Musiker entspricht nicht der Orchesterstruktur. Der Dirigent muss das Orchester neu aufbauen.
Infolge der schwindenden Orchesterstellen ist die Beschäftigungslage junger Musiker katastrophal. In den Jahren 2000 bis 2011 sind an den Musikhochschulen laut Deutschem Musikinformationszentrum 19 768 Studenten für Orchester- und Instrumentalmusik ausgebildet worden. Rechnet man einen jährlichen Altersabgang aus den Orchestern von 150 Musikern dagegen (1650 Personen), so haben rund 18 000 Absolventen keinen festen Arbeitsplatz erhalten. Angesichts des Stellenangebots bleiben nicht alle im Beruf, aber rechnet man nur die letzten 20 Jahre, so steht den 9 800 Festangestellten etwa das Dreifache als »Reserve« gegenüber. Die Absolventen sind gut ausgebildet und hochmotiviert. Gerade in dem Stadium, in dem sie durch die Eingliederung in ein professionelles Orchester eine enorme Leistungssteigerung erreichen könnten, bleiben die meisten auf Gelegenheitsarbeit angewiesen. »Humankapital« liegt brach. Das jahrelange Üben von Kind auf war umsonst. Einkommen ist kaum zu erzielen.
Es gibt eine zunehmende Prekarisierung junger Musiker, sagt Mertens. Lebenszeitstellen sind längst die Ausnahme. Der schleichende Abbau der Orchesterstellen sei unspektakulär, aber desto gefährlicher. Die Künstlersozialkasse weist für freischaffende Musiker unter 30 Jahren ein durchschnittliches Jahreseinkommen von 9 416 Euro aus. Der Durchschnitt aller erfassten Künstler liegt bei 10137 Euro – Hungerlöhne. Nicht mehr in der Statistik erfasst sind »private«, aus dem Haushalt gestrichene, auf Selbstausbeutung angewiesene Orchester wie die Berliner Symphoniker. Auch die Einkommen ihrer Musiker gehen in die Statistik der Künstlersozialkasse ein.
Die Disproportion von Stellen und freien Musikern könnte geringer sein, wenn es die seit 1992 gestrichenen 2 315 Stellen und die 36 Orchester noch gäbe. Bewältigt wäre sie längst nicht, aber kein Deutscher Musikrat, keine Kultusministerkonferenz der Länder, kein Kulturstaatsminister, keine DOV macht Anstalten, das Problem im gesamtstaatlichen Rahmen lösen zu wollen.
Die »Nebenwirkungen« der schwindenden Orchester und Orchesterstellen sind auch: weniger Zusammenarbeit mit Schulen, Schulorchestern und Chören, was zur Verödung der Kulturlandschaft und zum Abbröckeln von Besuchern für Konzerte und Theateraufführungen beiträgt.
Die DOV versucht gegenzusteuern mit Mindestbedingungen für die Beschäftigung von Praktikanten und durch stärkere Interessenvertretung freier Musiker. Eine löbliche Absicht, die sich auch auf die Vertretung von Mitgliedern in »privat« weiter betriebenen Orchestern erstrecken müsste, für die sich die DOV bisher für unzuständig erklärt hatte. Das wird jedoch an den Ursachen der Misere nichts ändern.
Die Perspektive ist düster. Sie wird nach Meinung von Mertens in der Jahrespressekonferenz der DOV gekennzeichnet vom Auslaufen des Solidarpakts II, von der Schuldenbremse und von kommunalem Schuldenabbau, ergo weniger Geld für die Kultur als »freiwillige Leistung« – Leistungen, zu denen die Städte und Gemeinden nicht verpflichtet sind und an denen gespart werden kann, ohne dass jemand einen Rechtsanspruch darauf hat.
Wie aber setzt die DOV ihre gewerkschaftliche Macht ein, um das Orchestersterben und den Stellenabbau zu stoppen? Ist die DOV überhaupt eine gewerkschaftliche Macht? Immerhin ist sie stolz auf einen Organisationsgrad von 90 Prozent. Wie weit reicht die Geduld der Gewerkschafter, sich immer wieder mit dem kleineren Übel abfinden zu müssen? Fast hat der Fragesteller den Eindruck, hier an der falschen Stelle zu sein. Denn, so Mertens, die DOV verstehe sich mehr als Berufsorganisation denn als Gewerkschaft. Interessante Lesart, aber warum die Berufsorganisation weniger gegen das Orchestersterben kämpfen müsse als die Gewerkschaft, erschließt sich nicht. Und was die Rolle als Gewerkschaft betrifft: was wird getan für die Vereinheitlichung der Orchestertarife, gegen deren Aufweichen durch Haustarifverträge, gegen das Herauslösen einzelner Bestandteile, gegen den erzwungenen Verzicht ganzer Belegschaften auf (restlich vorhandene) Tarifbestandteile wie Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld und auf die fällige Tariferhöhung überhaupt?
Wie steht es zum Beispiel mit der gewerkschaftlichen Solidarität, insbesondere der Belegschaften der »Dinosaurier« in München, Hamburg und Berlin? Wer geht nach Rostock zu einem gemeinsamen Konzert mit dem Orchester des Volkstheaters mit der Forderung »Gebt uns unser Theater zurück«? Inwieweit die DOV den Widerstand gegen das Orchestersterben organisieren wird, ist offen. Für organisierten Widerstand hat sie kein Konzept. In der Anprangerung von Sparmaßnahmen ist sie zuverlässig. Sie sucht ihr Heil in Gesprächen mit Landespolitikern und Kommunen. Mitunter werden die Einschnitte gemildert oder »gestreckt«. Heraus kommt immer nur das kleinere Übel. Die Erosion geht weiter.
Es liegt zum Beispiel bei der DOV durchzusetzen, dass die Tariferhöhungen im Öffentlichen Dienst, für die die Gewerkschaft Ver.di in den bevorstehenden Tarifverhandlungen 6,5 Prozent fordert, umgehend bei den Orchestermusikern ankommen. Dazu helfen unmittelbare Aktionen und keine jahrelangen Klagen vor Gericht.
Sparpläne vereiteln kann eine starke Kampagne in der Öffentlichkeit. Im Dezember 2009 verkündete der Intendant von Deutschlandradio, Willi Steul, seine Absicht, das Deutsche Symphonie Orchester Berlin und das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin zu fusionieren, was mindestens 70 Stellen gekostet hätte. Starker öffentlicher Protest zwang ihn zum (vorläufigen) Rückzug. Allerdings wirkte die politische Konstellation zugunsten der Musiker, weil die Gesellschafter Bund, Land Berlin und der Rundfunk Berlin-Brandenburg nicht zustimmten, da sie ein größeres Potential verloren hätten, als ihr finanzieller Anteil beträgt. Nicht alle Orchester haben diesen Vorteil. Denn kaum scheint dieser Schreck überwunden, haben andere Intendanten schöpferische Ideen. Aktuell will der Intendant des Südwestdeutschen Rundfunks, Peter Boudgoust, das Radio-Sinfonieorchester des SWR Stuttgart (102 Stellen) und das SWR Sinfonieorchester Freiburg im Breisgau (99 Stellen) fusionieren. Oder ein Orchester könnte komplett aufgelöst werden. Nach der Zusammenlegung der SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern und Saarbrücken im Jahre 1998 und der Verkleinerung des SWR Vokalensembles wäre das die dritte gravierende Einsparung. Der Deutsche Musikrat warnt vor der Zerstörung jahrelang gewachsener Klangprofile, doch was interessiert das Unternehmensberater, die Sparpotentiale suchen?
Vom 15. bis 17. Juni ruft der Deutsche Musikrat wieder zum »Tag der Musik« auf. Das wäre die Gelegenheit zum Warnstreik aller Orchester, für Radebeul und Riesa, für Altenburg-Gera, für Greifswald/Stralsund und Neubrandenburg/Neustrelitz, für Schwerin und Rostock, für Stuttgart und Freiburg, für Schleswig, Eberswalde, Herford und für das Kammerorchester Mannheim/Ludwigshafen. Nicht brav vorführen, wie schön der Kulturbetrieb in Deutschland ist, sondern ein Stoppzeichen setzen. Ohne Schutz der Schwachen wird das Orchestersterben weitergehen.