„Generell mag niemand Werbung.“, bringt es Erik Vervoegen, Creativ Director der Werbefirma TWBA, in der ersten der, den zehn Kapitel vorangestellten Einleitungen auf den Punkt. Der Betrachter will Werbung ausblenden. Trotzdem durchzudringen ist ihre größte Herausforderung. Haftet die Reklame im Gedächtnis, ist der potentielle Kunde gewonnen. Er kennt die Marke, weiß, was sie verspricht. Printwerbung sind die gerne überblätterten Seiten, die schmale Hefte schwer machen und den BigMäc neben das Foto Hungernder setzen. Nun liefert Herausgeber Julius Wiedemann mit „Advertising Now. Print“ ein dreisprachiges Buch voll davon. Liest das wer? Nein, meint Jonathan Cranin, Leiter der Werbefirma McCann. „Niemand liest mehr. Lesen kostet Zeit. Lesen kostet Konzentration. Das sind Dinge, die Leute heute nicht mehr machen.“
Zuviel Lektüre müssen Lesefaule des bilderdominierten „Advertising Now. Print“ nicht fürchten. Doch Motive laden zu einem analytischen Blick auf die Reklameversprechen ein. Die Bilder in „Advertising Now. Print“ sind aufschlussreicher als die Interviews mit führenden Werbefachleuten. Pragmatisch will die „Natan Jewllery“-Kampagne im Eröffnungskapitel „Business & retails“ sein. Die Plakate zeigen den Vorher-Nachher Effekt eines Schmuckgeschenks. Nachdem das Juwelendöschen von Damenhand geöffnet wurde, erstrahlt der zuvor unattraktive männliche Schenker als Traummann (Seiten 42-43). Beim Selbstversuch klappte der Verwandlungstrick leider nicht. Speckbauch, Mundgeruch und Intelligenzmangel des Anwärters konnten teure Klunkergeschenke nicht kurieren. Norman Bates, Dustin Hoffmann und Gene Kelly liefern auf den Seiten 58 und 59 in Standbildern aus „Psycho“ oder „Singin in the Rain“ Pizza ins Haus. „Part of the Home-Movies“ verkündet die Werbezeile. Pardon, „Pizza Hut“, aber POPCORN, ist das typische Kinoessen, nicht Pizza. Doppelt geschmacklos wirbt „McDonalds“ (Seite 67). Zur Einschulung hält eines von zwei Kindern eine Schultüte im Arm, Junge Nummer zwei eine „McDonalds“-Tüte. Einschulung verplant? Schnell ´ne Packung Billigessen bei McDoof (so genannt unter Grundschülern) geholt und die Kinder damit „abgespeist“. Das Problem ungesunder Ernährung unter Schulkindern lösen fettige Burger und überzuckerte Shakes sicher nicht. „Ich liebe es“ dachten wohl nur die Eltern des Schultütenträgers, dessen Blick auf seinen Nachbarn mitleidig statt neidisch wirkt. Ohne das charakteristische „M“ in der Ecke, könnte dies eine Kampagne gegen soziale Benachteiligung sein.
Die Werbewelt ist abstrakter geworden. Vor wenigen Jahrzehnten zeigten Werbedrucke das im allerbesten Licht präsentierte Produkt, ergänzt durch ein naheliegendes Motiv: Süßigkeiten mampfende Strahlekinder, sich mit Markencreme einreibende Schönheiten oder kernige Männer, die an der Zigarre zogen. Heute muss man um die Ecke denken. „Schnapp dir einen ’kleinen Deutschen`“ lockt eine amerikanische Plakatserie (Seiten 102-103). Den Markenriesling bewirbt sie mit einem Kleinwüchsigen in bayerischen Lederhosen. Am Straßenrand steht er wie ein vergessener Gartenzwerg und im Hochzeitsauto fährt er mit: Alkohol am Steuer.
Julius Wiedemanns „Advertising Now. Print“ überlässt die Bildanalyse dem Leser. Doch allein die Motive bezeugen, wie weit zeitgenössische Reklamen von ihren textlastigen Anfängen entfernt sind. So kann man sich mit „Advertising Now. Print“ dem Selbsttest unterziehen. Machen Tarzan und Äffchen Cheetah im Kapitel „Health & Beauty“ Appetit auf Bananengeschmackkondome (Seite 187)? Will man sich mit „Legendary Harley Davidson Eau de Toilette“ einsprühen, wie der Biker unter „Home care & Hygiene“? Beunruhigt die in Gestalt eines Sensemannes hinter der Müllschippe hervor kriechende Küchenschabe der Insektenvertilgungsmittelkampagne mehr als die aufrüttelnde Bildreihe gegen Kinderarbeit? Drastisch mag der Organspendeaufruf im Kapitel „Social & Political“ mit sich bluttriefende Organe herausreißenden Menschen sein, doch ist die „Spontex“- Werbung nicht krasser? Eine schöne Afrikanerin spaziert mit saugfähigem Schwamm statt Gefäß auf dem Kopf vom Wasserloch. Dürre? Kilometerlange Märsche für etwas, womit man hier das Klo spült? Schwamm drüber, meint „Spontex“.
Am aufschlussreichsten sind die an den größten Konsumentenkreis gerichteten Reklamen für Alltagsprodukte der Kapitel „Food & Beverage“ und „Media“, wie die intelligente Bildserie (Seiten 272-275) des „Grande Reportagem Magazines“. Zeichen und Farben von Flaggenmotiven werden mit wirtschaftlichen und sozialen Statistiken gleichgesetzt. Die internationale Bedeutung der Themen und die Transparenz des Magazins fließen in einprägsamen Motiven zusammen. Seiten 316 und 317 werben in direkt zitierbarer Buchstabenmanier für Schönheitsoperationen. Aus e wird é (Harrtransplantationen), aus @ ein a (Haarentfernung) und der persönliche Favorit: ”¦ zu .!. (Impotenzbehandlung). Noch besser gefällt die alte Dame, die auf Seite 344 das Jimi-Hendrix-Autogramm auf ihrer Brust zeigt. Das Motiv ist beispielhaft für das Konzept wirksamer Werbeposter. Das Bild löst einfallsreich mehrere Schwierigkeiten bei der Produktbewerbung. Mangelnde Farbhaltbarkeit von Stiften ist nicht unbedingt ein Alltagsproblem und was ist so wichtig, dass es ewig lesbar sein muss, aber nur in handgeschriebener Form existiert? Allerdings wäre der vermeintlich neue Permanent Marker dann schon vierzig Jahre auf dem Markt.
Während kreative Geister sogar für Zement humorvoll werben können, scheitern andere mit tumber Bierreklame mit knapp bekleideten Frauenkörpern (Seiten 114-115). „Sports & Apparel“ überrascht nicht mit öden gutaussehenden Athleten. „Technology & Equipment“ stellt klar, dass sich Menschen Spielkonsolentasten in die Haut brennen und Jesus ignorieren, sobald neue Computerspiele auf dem Markt sind. „Transport“ wirkt als Abschluss der Innovationen der vorherigen Kapitel mit seinen Luxusschlitten antiquiert. „Bilder erfassen Emotionen vielleicht nicht besser als Worte, doch mit Sicherheit schneller.“, äußert Cranin. Am schnellsten sind jedoch Gefühle. Darauf zielt die Sportmarken-Reklame des Umschlags ab. „Advertising Now. Print“ lässt sich auf Einband und Buchrücken nicht nur lesen, sondern an samtig-weichen Buchstaben erfühlen. Unterschwellig verspricht der Schriftzug mehr, als das Produkt liefern kann: eine über das Visuelle hinausgehende Erfahrung. Keiner liest mehr. Und keiner guckt mehr richtig hin.
Größte Herausforderung der Werbung ist aus der Masse herauszustechen. Werbung appelliert nicht mehr an das Beste im Käufer, sonder dessen Schwächen. Geld, Luxus, Schönheit und Sex ist, was jeder will. Geiz ist geil, Gier ist gut, denn sie lässt die Kassen der Auftraggeberfirmen klingeln. Werbung wiegt uns in der Sicherheit, dass die äußere Werte zählen, die sich leicht anpassen lassen, und dass insgeheim jeder so denkt. Die Reklamen in Wiedemanns „Advertising Now. Print“ fächern eine Welt der Extreme vor dem Betrachter aus. Kakerlaken in der Küche können den Tod bringen, Lottospielen einen vergoldeten Lokus und Rasierwasser Damenhuldigung. Die Reklamekomposition in „Advertising Now. Print“ öffnet den Blick für die Einflussnahme der Werbung: so alltäglich, dass man nichts davon bemerkt. Nebenbei ist „Advertising Now. Print“ eine anregende Sammlung brillant inszenierter Bildkonzepte. Gut, dass es viele der Produkte hierzulande nicht gibt oder – eigentlich schade”¦ Alles so schön bunt hier in „Advertising Now. Print“.
Titel: Advertising Now. Print (Englisch, Deutsch, Französisch) / Herausgeber: Julius Wiedemann/ Verlag: Taschen/ Jahr: 2009