Corinna Harfouchs Inszenierung atmet das Flair der existentialischen Avantgarde Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, des absurden Theaters von Beckett, Adamov, Ionesco und der artifiziell verspielten Experimente von Jean Cocteau.
Die Vorstellung hat den Charakter einer Probe. Wenn das Publikum hereinkommt, ist die Truppe auf der Bühne noch mit dem Aufbau beschäftigt. Alle räumen die mit schwarzem Stoff bespannten Quader hin und her, mit denen die gesamte Spielfläche bedeckt ist. Die Aktionen geschehen schnell und konzentriert, scheinen einem System zu folgen, obwohl nichts Anderes dabei herauskommt als ein bisschen freier Raum zum Agieren.
Während der folgenden 80 Minuten werden die schwarzen Quader immer wieder neu geordnet und durcheinander gebracht, bilden Gassen, Nischen oder ragen, aufeinander gestapelt, als Türme empor. Einmal demonstrieren die AkteurInnen erfolgreichen Wiederaufbau, bilden eine Kette, reichen die Quader weiter und bauen sie zur Umrandung einer Arena im Halbkreis um die Spielfläche herum. Es ist ein Versuch mit der Tradition, ausprobiert und wieder verworfen auf dem Weg, neue Formen zu finden. Auch die Bilder, die Julia Oschatz auf die Quader malt, werden mit der Umgruppierung der Kästen zu wirren Linien.
Alle an dem Theaterexperiment Beteiligten agieren auf der Bühne: Die Autorin und Regisseurin Annette C. Daubner, der Musiker Johannes Gwisdeck, der Tänzer Hermann Heisig, die Künstlerin, Bühnen- und Kostümbildnerin Julia Oschatz und die Tänzerin Anna-Luise Recke. Es ist so, als hätten sie sich in einer Künstlerkneipe getroffen und beschlossen, gemeinsam etwas zum Thema Schmerz und Gewalt zu gestalten.
Mitten unter ihnen ist Corinna Harfouch. Sie bringt die Sprache ins Spiel, kommt mit einem Buch an die Rampe, in dem das in Worte gefasst ist, was die anderen MitspielerInnen durch Tanz, Malerei oder Musik zum Ausdruck bringen. Es sind autobiographische Aufzeichnungen von Marguerite Duras, 1945 geschrieben und erst vierzig Jahre später veröffentlich unter dem Titel „Der Schmerz“.
Corinna Harfouch liest das Vorwort, legt dann das Buch beiseite und lässt, mit sparsamer Gestik und Mimik, aus dem Text die junge Frau lebendig werden, die bei Kriegsende die Rückkehr ihres Mannes erwartet, des Widerstandskämpfers Robert L., der 1944 von der Gestapo verhaftet worden war.
Die Frau reibt sich auf zwischen Hoffnung und der immer stärker werdenden Gewissheit, dass ihr Mann tot ist, erschossen in einem Graben liegt. Sie schläft nicht mehr, isst nicht mehr, trotzdem wartet sie am Telefon, hofft auf einen Brief, sucht im Auffanglager nach ihm oder jemandem, der ihn gesehen hat.
Wenn er zurückkommt, wird sie mit ihm ans Meer fahren. Während Corinna Harfouch das sagt, malt Julia Oschatz mit weißer Farbe eine Linie für das Meer und ein paar Möwen auf die schwarzen Quader. „J’attendrai“ singt Dalida.
Robert L. kommt zurück, aber die Frau, die ihn so sehnsüchtig erwartet hat, kann ihn nicht mehr lieben. Der Mann, der ihr ganzes Denken und Fühlen beherrscht hat, ist ihr fremd geworden, ein fast Toter, abgemagert bis zum Skelett. Als er wieder zu Kräften kommt, teilt sie ihm mit, dass sie sich von ihm trennen wird.
Robert L. ist der Schriftsteller Robert Antelme. Über seine Inhaftierung in Buchenwald hat er ein Buch geschrieben, „Das Menschengeschlecht“, 1987 in deutscher Übersetzung erschienen. Danach hat Robert Antelme nie wieder von den deutschen KZs gesprochen.
Das Buch „Der Schmerz“ von Marguerite Duras besteht aus zwei Teilen. Einen der Texte aus dem 2. Teil, in dem die Folterung eines Denunzianten geschildert wird, lässt Corinna Harfouch auf die Geschichte vom verzweifelten Warten und Wiederfinden folgen.
Es ist nicht erwiesen, dass Marguerite Duras tatsächlich die Folterung eines Menschen veranlasst hat. Sie hat sich jedoch so sehen wollen und hat dazu geschrieben: „Ich liefere euch die, die foltert, mit dem Rest der Texte aus. Lernt zu lesen: es sind heilige Texte.“
Corinna Harfouch interpretiert diesen Text nicht selbst. Anna-Luise Recke, zu Beginn noch außer Atem vom Tanzen, übernimmt diesen Bericht. Sie steht an der Rampe während ihres Vortrags und schildert das Geschehen wie ein Spiel, das sie beobachtet und anführt.
Marguerite gibt den Befehl, einen Mann zu schlagen, der seine Landsleute an die Deutschen verraten hat. Sie leitet ein Verhör, aber wichtiger als eine Aussage zu bekommen, ist es für sie, den Verräter zusammenschlagen zu lassen, zu sehen, wie ihm das Blut über das Gesicht läuft, zu hören, wie er wimmert und schreit. Genugtuung empfindet sie jedoch nicht. Die Rache an einem Schuldigen löscht die Schmerzen nicht aus, die er verursacht hat.
Corinna Harfouchs Inszenierung ist eine Auseinandersetzung mit Geschichte, die in unsere Gegenwart hineinreicht. Sie ist aber auch eine ganz aktuelle Darstellung der Auswirkungen von Gewalt, wie sie hier und heute ausgeübt wird, am erschreckendsten bei der Misshandlung von Kindern.
„Der Schmerz“ nach Marguerite Duras, eine Koproduktion des Schauspiels Stuttgart und des Deutschen Theaters Berlin, hatte am 11.04. Premiere im Stuttgarter Kammertheater. Die Premiere im Deutschen Theater fand am 29.05. statt. Weitere Vorstellungen im DT: 09., 10., 22. und 23.06.2010.