London, Vereinigtes Königreich (Weltexpress). Der britische Oberrabbiner Ephraim Mirvis hat in der Londoner „Times“ dem Führer der oppositionellen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, vorgeworfen, seine Partei mit Antisemitismus bis hin zu den Wurzeln zu vergiften. Dies geschehe mit Billigung der Parteiführung – „poison sanctioned from the top“. Nichts geringeres als „die Seele dieser Nation“ stehe auf dem Spiel. Mirvis betonte, die britischen Juden seien verständlicherweise besorgt, dass die Labour-Partei nach den (auf den 12. Dezember anberaumten) Wahlen die nächste Regierung bilden könnte. Diese Stellungnahme des Oberrabbiners ist präzedenzlos – etwas vergleichbares hat es meines Wissens in der gesamten neueren Geschichte Großbritanniens, nicht gegeben, und schon gar nicht in dieser Schärfe.
Der Kommentar Mirvis‘ erfolgt zu einem Zeitpunkt – knapp mehr als zwei Wochen vor dem von der Brexit-Kontroverse dominierten Urnengang – da sich der bisher große Vorsprung der Tories vor Labour täglich verringert. Eine Machtübernahme der Oppositionspartei ist nach wie vor wenig wahrscheinlich, erscheint aber zusehends möglich. Labor hat inzwischen – im Gegensatz zu den Konservativen – den Stimmbürgern im Falle eines Wahlsiegs angeboten, ein Referendum mit zwei Optionen anzubieten: Ein (von Labour auszuhandelndes) neues Ausstiegsabkommen – oder die wieder neu aufgelegte Frage, ob die Briten den Brexit überhaupt wollen oder ob sie doch in der EU verbleiben möchten („remain“). Diese Möglichkeit, welche die Tories nicht anbieten – deren Wahlsieg würde automatisch den Brexit unter der kundigen Führung von Premier Boris Johnson nach sich ziehen – stellt wohl für viele Briten eine durchaus attraktive Option dar, zumal der peinliche, teure, ergebnislose Eiertanz der Tories um Brexit in der ganzen Nation Kopfschütteln ausgelöst hat.
Oberrabiner Mirvis betonte, es liege im fern, den jüdischen Wählern zu suggerieren oder gar vorzuschreiben, für welche Partei sie ihre Stimme abgeben sollten. Aber die Art und Weise, wie die Labour-Führung mit antijüdischem Rassismus umgehe sei „inkompatibel mit den britischen Werten, auf die wir so stolz sind – Würde und Respekt für alle“. Die Labour-Partei hat stets mit Emphase in Abrede gestellt, dass Corbyn Antisemitismus-Vorwürfe auf die leichte Schulter nehme. Die Partei betont stets Corbyns Vorreiterrolle in anti-rassistischen Kampagnen und seine Bemühungen um eine Verbesserung des parteiinternen Beschwerde-Systems.
Der Rabbiner führte aus, dass die Labour-Parteiführung es nie verstanden hatte, dass ihr Versagen nicht ein prozedurales Scheitern sei, das mit zusätzlichem Personal oder neuen Beschwerde-Systemen behoben werden könne. Die Parteiführung habe nicht erkannt, dass dies kein politisches sondern ein menschliches Problem sei – ein Versagen der Parteikultur und vor allem ein Versagen der Parteiführung selbst. Ein „neues Gift“ sei von der Parteispitze her in die Wurzeln der Partei hinabgeträufelt worden. Bis zu welchem Grad muss denn ein Führer „of Her Majesty’s loyal opposition“ aktiv Vorurteile befördern, um als ungeeignet für sein Amt betrachtet zu werden? Ist das Zusammenspannen mit jenen, die Hass gegen die Juden fördern, hinreichend? Reicht es denn nicht, jene, die den Mord an Juden als „Freunde“ zu deklarieren (Mirvis spielt offenbar an auf die „Freundschaft“ zwischen Corbyn und der Hamas)? Offenbar, so Mirvis, reiche dies alles nicht, um Corbyn zu disqualifizieren.
Er sei nicht in einer Position, um irgendjemandem zu sagen, wie er oder sie wählen solle. Er bedaure, dass er sich überhaupt in dieser Position zu befinde. Er wolle ganz einfach diese Frage stellen: „Was will das Ergebnis dieser Wahlen über den moralischen Kompass unseres Landes aussagen“? Wenn der 12. Dezember komme, bitte er jedermann, mit seinem Gewissen zu wählen. Und keinen Zweifel daran zu hegen, dass es hier um die Seele dieser Nation gehe.
Mirvis führte aus, es gebe nicht weniger als 130 pendente Fälle von Antisemitismus bei Labour. Die britisch-jüdische Gemeinschaft habe fassungslos mitverfolgt, wie Labour-Anhänger Parlamentsabgeordnete, Parteimitglieder und sogar Parteifunktionäre aktiv bedroht hätten, welche den antijüdischen Rassismus angeprangert hatten. Selbst dann sei die Labour-Führung diesem Phänomen in keiner Weise gewachsen gewesen. Sie hatten Lavieren und zögerliches Verhalten zu beobachten, wenn es darum ging, selbst die weiteste, schwächste Definition des Antisemitismus offiziell durch die Partei zu verurteilen. Man erwarte jetzt den Ausgang der Beratungen der Equality and Human Rights Commission über die Frage, ob die Diskriminierung von Juden bei Labour inzwischen zu einem institutionellen Problem geworden sei. Und all dies, während diese Partei sich in Opposition befindet. Was, wenn diese Partei erst einmal an die Regierung kommt.
Die Partei stellte umgehend die Vorwürfe des Oberrabbiners in Abrede. Die Zahl 130 sei „ungenau“ – Antisemitismus sei lediglich bei 0,1 Prozent der Parteimitglieder festzustellen und man gehe „entschlossen“ gegen Antisemitismus in der Partei vor, mit Suspendierungen und einem „Erziehungsprogramm“ für Parteimitglieder.
Es war das erste Mal, das ein britischer Oberrabbiner derart klare Worte fand. Obwohl er dies nicht so gemeint haben will, war dies eine unzweideutige Wahlempfehlung für die Konservativen (bzw. die oppositionellen Liberaldemokraten) – und zweifellos ein alarmierender Ausdruck der emotionellen Befindlichkeit der britischen Juden, deren Familien in vielen Fällen in Großbritannien Zuflucht vor der NS-Mordmaschinerie gefunden hatten.
Inzwischen hat sich auch Justin Welby, der Erzbischof von Canterbury, das Oberhaupt der Church of England bzw. der Anglikanischen Kirche, zu Wort gemeldet: Welby hat Oberrabbiner Mirvis in dessen Aussagen vollumfänglich unterstützt. Welby brachte in einem Tweet sein Verständnis für „das tiefe Gefühl von Unsicherheit und Angst, das viele britische Juden empfinden“, zum Ausdruck. Welby erwähnte die Labour-Partei nicht, doch seine Intervention nur ein paar Stunden nach der Erklärung des Oberrabbiners und dessen scharfer Kritik an Labour-Chef Corbyn wird hier in Großbritannien als bedeutungsvoll gewertet.