Jean-Paul Sartre verarbeitete diesen Stoff 1943 zu einem Drehbuch, das Jean Delannoy 1947 stimmungsvoll verfilmt hat. Auch die Theater nahmen sich erfolgreich dieses Stücks an, das nun, nach 71 Jahren, doch ziemlich alt aussieht.
Jette Steckel hat sich von diesem Stück auf bewundernswerte Weise inspirieren lassen. In ihrer Inszenierung wird der Text, von Staub und Sentimentalitäten befreit, als Gedankenspiel lebendig.
Das Publikum sitzt auf der Bühne, eine Gemeinschaft der Lebenden, während der Zuschauerraum den Toten vorbehalten ist, die dem Leben zusehen, aber nicht ins Geschehen eingreifen und sich den Lebenden nicht einmal bemerkbar machen können.
Zu Beginn ist zu ohrenbetäubendem Lärm, wie von Flugzeugen, ein Film zu sehen: Die Kamera fährt an Menschen entlang, die auf dem Bahnsteig am U-Bahnhof Potsdamer Platz in Berlin warten. Die Geschichte, die erzählt werden soll, könnte zu jeder beliebigen Zeit an jedem beliebigen Ort stattfinden.
Die wartenden Menschen, unter denen auch die Regisseurin auftaucht, sind festgehalten in erstarrten Bewegungen, nur einige heben sehr langsam einen Arm oder verändern ganz leicht ihre Körperhaltung. Vielleicht stehen die Toten hier neben den Lebenden, vielleicht sind sie auch alle erstarrt vor Schreck, atemlos vor Angst, weil ihnen gerade der Gedanke an ihr unvermeidliches Ende in den Sinn gekommen ist, so wie er sich auch, durch den Höllenlärm, dem Publikum vermittelt.
Was alle befürchten, geschieht zwei Menschen ganz in der Nähe des U-Bahnhofs: Pierre, ein junger Mann in einer Lederjacke, wird auf der Straße erschossen, und in einer eleganten Wohnung wird Eve von ihrem Ehemann vergiftet.
Für diese Beiden ist auf einmal alles zu Ende. Dieser Gedanke ist so unerträglich, dass ihm die Imagination eines Weiterlebens folgen muss. Der Atheist Jean-Paul Sartre hat die Fortsetzung des Lebens in einem konstruierten Jenseits in „Geschlossene Gesellschaft“ als Konzentrat menschlicher Grausamkeit und in „Das Spiel ist aus“ als sinnentleertes Schattendasein konzipiert.
Die Filmleinwand verschwindet, und im Zuschauerraum erscheinen Eve und Pierre, nackt wie Gott sie schuf, auch wenn es in diesem Totenreich keinen Gott, sondern nur eine Verwaltungsangestellte gibt. Natali Seelig, mit grauer Lockenperücke, wunderbar skurril, dokumentiert die Lebens- und Sterbedaten der mittlerweile wieder bekleideten Neuzugänge und muss später auch den Computerfehler einräumen, durch den Eve und Pierre zu ihren Lebzeiten einander nicht begegnet sind.
Das Totenreich ist ein seltsam unvollständiges Gebilde. Die Ewigkeit liegt außerhalb des menschlichen Vorstellungsvermögens, und wohl deshalb werden Jenseitsfantasien gern mit prunkvollen oder verkitschten Accessoires ausgestattet, die das Unfassbare zugänglich machen sollen. Die roten Plüschsessel und der funkelnde Kronleuchter im Zuschauerraum vermitteln den Eindruck, dass die Verstorbenen in einer sehr schönen, vornehmen Welt gelandet sind. Es ist eine Welt, die nicht wieder verlassen werden kann. Eve sucht einen Ausgang, aber die Unendlichkeit hat keine Grenzen, die überschritten werden könnten. Nichts hat hier eine Richtung oder ein Ziel. Auch Gedanken werden nicht zu Ende gedacht. Zitate aus den Werken von Schriftstellern und Philosophen bleiben unkommentiert und führen zu keiner Erkenntnis.
Dass ein ewiges Leben, das sich nur als fades Einerlei denken lässt, trotzdem attraktiv sein kann, liegt wohl an der Hoffnung auf überirdisch wundersame Eindrücke, wie sie in Jette Steckels Inszenierung durch Matthias Vogels beeindruckende Lichteffekte, durch Rauch oder auf das Publikum herabschneiende weiße Flocken bewirkt werden und, nicht zuletzt, durch die Musik von The Notwist, in der die wechselnden Stimmungen der einzelnen Szenen spürbar sind, die das Tempo vorantreibt und die Spannung niemals abreißen lässt.
Anders als die harmlose, verspielte Fantasiewelt der Toten ist die Realität der Lebenden scharf konturiert und voller Gefahren, zu erleben in filmischen Dokumentationen oder live dargestellt vor einer kahlen weißen Wand.
Das Publikum fährt auf der, gemächlich mal in die eine, dann in die andere Richtung, kreisenden Drehbühne zu den unterschiedlichen Schauplätzen, wie in einer Geisterbahn vorbei an plötzlich auftauchenden Gestalten oder sieht kurze Ausschnitte aus Szenen, die durch das Weiterfahren fragmentarisch bleiben.
Jette Steckels Inszenierung ist zusammengesetzt aus einer Fülle von Details, die zum Weiterdenken verlocken, in denen sich ironische Verfremdungen zeigen, die sich aber so schlüssig zu einem Gesamtbild zusammenfügen, dass sie gar nicht alle einzeln erfassbar sind.
Judith Hofmann und Ole Lagerpusch sind Eve und Pierre, zwei Menschen, die weder in die Welt der Lebenden noch in die der Toten hinein passen. Elias Arens, Barbara Heynen, Alexander Khuon, Till-Jan Meinen, Natali Seelig und Anne Wels erscheinen jeweils in bis zu vier verschiedenen Rollen. Das Team wird verstärkt durch ein gutes Dutzend StatistInnen. Hervorragend choreografierte Ensembleszenen wechseln mir Soloauftritten, in denen die SchauspielerInnen ihre Wandlungsfähigkeit beweisen, unterstützt durch die charakterisierenden Kostüme von Pauline Hüners.
Der machtgierige Regent (Natali Seelig) ist eine eher lächerliche Erscheinung. Seine unsinnige Rede, mit der er die nächste Wahl gewinnen will, probt er mit dem Rücken zum Publikum, in Richtung der Toten. Der skrupellose Polizeichef (Alexander Khuon) dagegen bedient sich ausgefeilter Formulierungen und weiß sehr wohl, dass er sich den Lebenden zuwenden muss. Diesen Mann hat Eve geheiratet, wohl weil er optisch ihrem Vater ähnelt, der ebenfalls von Alexander Khuon verkörpert wird.
Judith Hofmann und Ole Lagerpusch gestalten ihre Rollen sehr wahrhaftig, mit sparsamen Ausdrucksmitteln und faszinierender Intensität. Wenn sie im Jenseits ihre Liebe entdecken, erscheinen sie wie ein ganz harmonisches, selbstverständlich zusammengehörendes Paar. Erst nach der Rückkehr ins Leben werden ihre Unterschiede deutlich als unüberbrückbare Kluft. Sehr schnell scheinen sie deshalb auch bereit zu sein, den erneuten Lebensversuch aufzugeben. Während Pierres Mörder an die Tür hämmern, stehen Eve und Piere, Hand in Hand vor der weißen Wand, die Blicke auf ihre schwarzen Schatten gerichtet. Dann aber versuchen sie es doch noch mit der Liebe, dem Sex, der im Jenseits nicht möglich war, und schon sind die Verfolger verschwunden. Der Glücksrausch, in dem Eve und Pierre sich daraufhin blau anmalen, ist so überwältigend, dass ein schlimmes Ende gar nicht mehr möglich erscheint, und doch folgt das böse Erwachen.
Eve und Pierre erkennen, dass sie durch ein gemeinsames Leben von allen anderen Menschen getrennt wären, nur einander hätten, aber niemanden sonst. Mehr als durch Worte vermitteln Judith Hofmann und Ole Lagerpusch das durch ihre Körpersprache und ihre Mimik. Doch obwohl sie in diesen Augenblicken offensichtlich resigniert haben, tun sie so, als könnten sie den auf 24 Stunden begrenzten Versuch, ihre Zusammengehörigkeit zu beweisen, noch rechtzeitig wieder aufgreifen, nachdem sie andere, wichtige Aufgaben erledigt haben.
Auch dabei scheitern sie. Pierre hat im Totenreich erfahren, dass der Aufstand, den er mit seinen Freunden geplant hat, verraten wurde. Weil er die Quelle seiner Information jedoch nicht angeben kann ohne sich lächerlich zu machen, ist er nicht glaubwürdig und, da er mit der Frau des Polizeichefs gesehen wurde, gilt er sogar als Verräter.
Eve will ihre Schwester Lucette vor ihrem Mann retten. Nachdem der seine Frau aus Geldgier umgebracht hat, umwirbt er Lucette, um auch an deren Vermögen zu kommen. Eves ganz reale Erfahrungen mit ihrem Ehemann sind für die naive Lucette jedoch ebenso wenig überzeugend wie Pierres Botschaften aus dem Jenseits für seine Freunde.
Am Ende trifft Pierre eine ganz bewusste Entscheidung: Aus Verantwortungsgefühl seinen Freunden gegenüber, die er nicht retten konnte, lässt er sich mit ihnen gemeinsam erschießen. Als Liebender hat er versagt, aber eigentlich ist er doch wohl ein Held.
Der große Theaterabend, den Jette Steckel mit einem wunderbaren Schauspielensemble und exzellenten künstlerischen und technischen MitarbeiterInnen gezaubert hat, stellt den ZuschauerInnen sehr eindringlich die Frage, wie sie es denn mit dem Sein und dem Nichts halten.
„Das Spiel ist aus“ von Jean-Paul Sartre hatte am 28. März Premiere im Deutschen Theater. Nächste Vorstellungen: 06., 08., 12. und 16.04.2014.