Schalit, zum Beispiel

Gilad Schalit ist zu einem lebenden Symbol geworden – einem Beispiel für die israelische Realität, der Unfähigkeit unserer Führer, Entscheidungen zu treffen, ihrer moralischen und politischen Feigheit, ihrer Unfähigkeit, eine Situation zu analysieren und daraus Schlüsse zu ziehen.

Wenn es eine praktische Gelegenheit gegeben hätte, Schalit durch eine militärische Aktion zu befreien, hätte die israelische Regierung diese schnell unternommen.

So viel ist klar, weil die israelische Öffentlichkeit ein Problem immer eher mit Gewalt lösen will, als etwas zu tun, das als Schwäche ausgelegt werden könnte. Die Rettung der Geiseln in Entebbe 1976 wird als eine der ruhmreichsten Operationen in Israels Geschichte angesehen, obwohl es da nur um Haares Breite zwischen Erfolg und Misslingen ging. Es war ein Spiel mit dem Leben von 105 Geiseln und dem der Soldaten – und es war erfolgreich.

Bei anderen Gelegenheiten hatte das Glücksspiel keinen Erfolg. Nicht in München 1972, als man mit dem Leben der Athleten spielte und verlor. Nicht in Ma’alot 1976 , als man mit dem Leben der Schüler spielte, und verlor. Nicht bei den Bemühungen 1994, um den gefangenen Soldaten Nachshon Wachsman zu befreien, als man mit seinem Leben spielte und wieder verlor.

Wenn es eine Chance gegeben hätte, Schalit mit Gewalt zu befreien, hätten sie sein Leben riskiert und hätten wahrscheinlich auch versagt. Glücklicherweise hat es keine solche Chance dafür gegeben. Vorläufig.

Tatsächlich ist das ziemlich bemerkenswert. Unsere Sicherheitsdienste haben außer elektronischen und anderen Geräten Hunderte von versteckten Kollaborateuren im Gazastreifen. Doch scheint es keine zuverlässigen Informationen über Schalits Aufenthaltsort zu geben.

Wie ist das Hamas gelungen? Unter anderem dadurch , dass jeder Kontakt mit dem Gefangenen verhindert wurde – keine Treffen mit dem Internationalen Roten Kreuz oder ausländischen Würdenträgern, nur zwei Videos, fast keine Briefe. Sie ließen sich einfach nicht unter Druck setzen. Sie verweigern alle Forderungen dieser Art.

Dieses Problem könnte möglicherweise überwunden werden, wenn unsere Regierung bereit gewesen wäre, die Versicherung zu geben, dass kein Versuch unternommen werde, ihn gewaltsam zu befreien. Dafür hätte Hamas ihn mit dem Roten Kreuz treffen lassen müssen, um das zu ermöglichen. Um bei solch einem gemeinsamen Unterfangen glaubwürdig zu sein, wäre wahrscheinlich eine Garantie durch eine dritte Partei wie die US nötig gewesen. Da solch eine Vereinbarung fehlt, sind alle scheinheiligen Reden von ausländischen Staatsmännern über „lasst das Rote Kreuz den Soldaten besuchen“ alles nur viele leere Worte.

Nicht weniger heuchlerisch sind die Forderungen ausländischer Persönlichkeiten, man „solle den gekidnappten Soldaten frei lassen“.

Solche Forderungen sind Musik für israelische Ohren, übersehen aber völlig die Tatsache, dass es sich hier um einen Gefangenenaustausch handelt.

Gilad Schalit lebt und atmet, ein junger Mann, dessen Schicksal starke Emotionen weckt. Aber das Gleiche gilt für palästinensische Gefangene. Sie sind am Leben und atmen, und ihr Schicksal weckt genau so menschliche Emotionen. Es sind junge Menschen, deren Leben im Gefängnis vertan wird. Unter ihnen sind politische Führer, die dafür bestraft werden, einfach zu der einen oder anderen Organisation zu gehören. Unter ihnen sind auch Leute, die – nach hebräischer Redeweise – „Blut an ihren Händen“ haben und nach palästinensischer Redeweise – Nationalhelden sind, die ihre eigene Freiheit geopfert haben, um der Befreiung ihres Volkes willen.

Der von der Hamas geforderte Preis scheint maßlos – ein Tausend für einen. Aber Israel hat für andere Gefangene in der Vergangenheit schon solch einen Preis bezahlt – und das ist die Standardpreisliste geworden Hamas kann, um ihr Gesicht nicht zu verlieren , nicht weniger akzeptieren.

Die Tausend palästinensischen Gefangenen haben Familien – Väter, Mütter, Frauen und Kinder, Brüder und Schwestern – genau wie Gilad Schalit. Auch sie schreien auf, fordern, üben Druck aus. Die Hamas kann sie nicht ignorieren.

Die ganze Affäre zeigt in erschreckender Weise, wie unsere Regierungen – die letzte genau so wie die gegenwärtige – unfähig sind, Entscheidungen zu treffen und sogar logisch zu denken.

Die Hamas hat schon in Entsprechung zu vergangenen Präzedenzfällen vor vier Jahren den Preis festgelegt. Ihre Forderung hat sich seitdem nicht verändert.

Seit dem ersten Augenblick vor vier Jahren wäre es nötig gewesen, sich zu entscheiden.

Zweifellos hätte so ein Abkommen die Hamas gestärkt. Es würde als bedeutsamer palästinensischer Faktor ihre Legitimität unterstreichen. Es würde als Bestätigung des Mantras angesehen werden, dass „Israel nur die Sprache der Gewalt versteht“.

Deshalb kommt eine einfache Frage auf: Ja oder nein?

Ja bedeutet ein Schlag gegen Mahmoud Abbas, dessen versöhnlicher Art es nicht gelungen ist, einen einzigen bedeutenden palästinensischen Gefangenen zu befreien. ( Die US haben jedes potentielle Abkommen mit Hamas durch ihr Veto verhindert, da es diese Organisation gestärkt hätte, die sie als „terroristische Organisation“ betrachteten und Abbas geschwächt hätte, den sie als ihren Mann sehen.)

Nein bedeutet für Schalit Gefangenschaft auf Lebenszeit mit ständiger Gefahr für sein Leben.

Inzwischen sind es vier Jahre, dass unsere Führer unfähig sind, zu entscheiden, genau wie sie unfähig sind, über jede andere bedeutsame Sache zu entscheiden, die unsere Zukunft betrifft. ( Zum Beispiel: Zwei Staaten: oder ein Apartheid-Staat? Frieden oder Siedlungen? Mit Abbas ein Friedens-abkommen machen oder mit der Hamas verhandeln?)

Um sich aus der Notwendigkeit, eine Entscheidung zu treffen, heraus zu manövrieren, sind mehrere Tricks angewandt worden. Unter anderem die Behauptung, der Zweck der Gazablockade sei es, Schalit zu befreien.

Das war von Anfang an ein verlogener Vorwand. Die Blockade ist verhängt worden, um die Bevölkerung von Gaza zu zwingen, das Hamasregime zu stürzen, das die demokratischen Wahlen der Palästinenser gewonnen hatte. Die Verbindung zu Schalit diente nur der Propaganda.

Jetzt ist die Blockade teilweise aufgehoben worden. Das ist ein großer Erfolg für die Hilfsflotille – ein Sieg, an den die Organisatoren der Flotille nicht in ihren kühnsten Träumen zu hoffen gewagt hatten. Als Folge der dummen Entscheidung, das türkische Schiff anzugreifen, machte der internationale Druck diesen Schritt unvermeidlich.

Unter den Vorwänden, die sich die Regierung ausgedacht hatte, erklärte sie, „die Blockade habe nicht dazu geholfen, Schalit zu befreien“.

Schalits Eltern schrieen auf. Sie waren wirklich davon überzeugt, es gebe eine Verbindung zwischen der Blockade und dem Schicksal ihres Sohnes. Aber es ist offensichtlich, dass, als entschieden wurde, dem internationalen Druck nachzugeben und die Blockade teilweise aufzuheben, Binyamin Netanyahu und Ehud Barak gar nicht an Schalit dachten.

Ich betone das Wort „teilweise“. Es ist zwar ein großer Sieg für all jene, die von Anfang an sagten, die Blockade sei unmoralisch, illegal und unklug. Die Entscheidung alles in den Streifen hineinzulassen, außer Waffen, stellt schon einen großen Wandel dar.

Aber das Hauptproblem in Gaza ist die Armut, die durch Arbeitslosigkeit hervorgerufen wird. Praktisch sind alle Unternehmen durch die Blockade stillgelegt worden. Sie können nicht nur kein Rohmaterial bekommen, sondern, was nicht weniger wichtig ist, sie können ihre Produkte auch nicht in die Westbank, nach Israel und in die Welt exportieren. Es scheint, als habe sich diese Situation noch nicht geändert. Selbst wenn die Unternehmen Rohmaterial erhalten würden, könnten sie ihre Produkte nicht exportieren – Textilien, Früchte, Blumen und alles Übrige. Die israelischen Lieferanten werden jetzt Millionen machen, wenn sie ihre Waren im Gazastreifen verkaufen, aber die Bewohner von Gaza werden nicht in der Lage sein, ihre Produkte an Israel zu verkaufen.

Doch dies betrifft nicht Schalits Schicksal .

Die Schalit-Familie ist in großer Not. Man kann sie verstehen. Aber Sympathie sollte Kritik nicht ausschließen.

Sie haben unrecht, wenn sie gegen die Aufhebung der Blockade sind. Sie haben unrecht, wenn sie verlangen, dass Hamasgefangene in Israel kein Familienbesuch erlaubt ist. ( und nicht nur, weil es den Familien, die in Gaza leben, nicht erlaubt ist, Israel zu betreten.)

Man kann nicht beides haben. Wenn Noam Schalit, der Vater, verlangt, dass man tausend Hamas-Gefangene für seinen Sohn freilassen soll, kann er nicht gleichzeitig an der Verfolgung der Hamasgefangenen teilnehmen. Er kann nicht menschliche Behandlung für seinen Sohn verlangen – und gleichzeitig die unmenschliche Behandlung der Gazabevölkerung rechtfertigen. Die Doppelmoral verwirrt die Öffentlichkeit und schwächt die Kampagne zur Befreiung Gilads.

Die Botschaft muss einfach, klar und aufrichtig sein: Benyamin Netanyahu soll sofort die Entscheidung für den Gefangenenaustausch machen. Gilad wird nach Hause zurückkehren, und alle Israelis werden jubilieren. Die palästinensischen Gefangenen werden auch nach Hause zurückkehren, und auch dort werden alle jubilieren.

Die Unfähigkeit Netanyahus, Entscheidungen zu treffen und hinter ihnen zu stehen, zeigt enthüllt das volle Ausmaß seiner Inkompetenz als Führer.

Stattdessen haben wir einen Marketingspezialisten (was zufällig auch sein ursprünglicher Beruf ist), eine Person, die morgens mit Umfragen aufwacht und abends mit Umfragen schlafen geht. Die Meinungsforscher sagen ihm, die Befreiung von Gilad Schalit würde beliebt sein, aber die Befreiung von Palästinensern unbeliebt . Nachts im Bett zerbricht er sich den Kopf, was wohl für ihn besser sein würde? Wie viele Stimmen würde er gewinnen, wie viele Stimmen verlieren?

Das ist beängstigend. Wenn er keine aufrichtige, einfache Entscheidung über das Schicksal von Schalit machen kann, wie will er dann Entscheidungen über die Probleme treffen, die unser aller Schicksal nicht nur für ein Jahr, sondern für kommende Generationen betreffen?

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel aus dem Englischen würden übersetzt von Ellen Rohlfs. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Dieser Beitrag wurde unter www.uri-avnery.de am 26.06.2010 veröffentlicht. Alle Rechte beim Autor.

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