Immerhin hatten sie beobachtet, wie der Schiedsrichter Günter Perl vorher auf der anderen Seite großzügig hinweggesehen hatte als auf der anderen Seite der Ball im 16-Meter-Raum an die Hand eines Bochumers sprang oder als Paul Freier dem durchgelaufenen Steven Skrzybski, seines Zeichens Stürmer der Gastgeber, an fast derselben Stelle das Knie in dessen Kniekehle rammte und eine Torchance verhinderte. Und natürlich ganz verdächtig: der außerhalb seiner Schiedsrichtertätigkeit als Groß- und Außenhandelskaufmann tätige Perl kommt aus Pullach! Das kann doch kein Zufall sein. Sitzen dort nicht all diese Spioniere? NSA und BND und Nachtigall – ick hör dir trappsen.
Aber vielleicht ist alles auch ganz einfach. Nach dem grandiosen 3:0-Testspiel-Sieg gegen Celtic Glasgow meinte mein Freund Tilly, der mit seiner Komakolonne seit Urzeiten die Spiele der Eisernen begleitet: „Weeßte, jetzt schnappen se alle schon über, feiern jeden Neuen als Fußballjott und sehen sich bald inne erste Liga. Aber det war doch vorjet Jahr jenauso – inne Vorbereitung allet jewonnen und denn? Denn hamwa nach fünf Spielen jerade mal een Punkt jewonnen.“
Trainer Uwe Neuhaus hingegen hatte nach der Niederlage eine andere Erklärung: „Da muss ein Fluch über unserem ersten Saison-Heimspiel liegen.“ Im Vorjahr hatte man ebenfalls unglücklich 0:1 gegen den späteren Aufsteiger Braunschweig verloren. Aber diesmal sei die Niederlage einfach „dumm, überflüssig und unnötig“ gewesen, meinte der Fußball-Lehrer, der nunmehr im siebten Jahr die Kicker aus Köpenick betreut.
Damit liegt er wohl nicht ganz falsch. Selbst sein Widerpart, Peter Neururer – in der Vorsaison zum Retter des VfL in nahezu letzter Minute geworden – freute sich über einen „glücklichen, aber verdienten Sieg“. Das trifft vor allem auf die erste Spielhälfte zu, die Union mit Dusel torlos überstand. Die Bochumer hatten sich schnell und klug auf den anfänglichen Druck der Gastgeber eingestellt und ihrerseits zwei, drei große Chancen zu Toren erspielt. Meist bestraft der Fußballgot solche Nachlässigkeiten mit einer Niederlage. An diesem sonnigen Sonntag indes bescherte er den knapp 19 000 Zuschauern ein sich stetig steigerndes Drama.
War es die Hitze oder die sich gegenseitig neutralisierenden Gegner – jedenfalls schien alles auf ein 0:0 hinauszulaufen. Denn bis zur 64. Minute gab es auch in der zweiten Halbzeit wenig Aufregendes zu erblicken. Da bot es sich an, doch ab und an den Bierstand zu besuchen und nur mit einem Auge das Geschehen auf dem Sportplatz zu verfolgen. Es war dann eben diese 64. Minute, die gewiss den einen oder anderen sich verschlucken ließ am Kaltgetränk, das besungen wird mit: Berlin, Berlin – du bist so wunderbar.
Doch wunderbar war dieser Augenblick für Bochum, speziell für einen Akteur namens Danny Latza. Der 23-jährige Mittelfelmann – wie Sören Brandy bei Union aus der Konkursmasse des MSV Duisburg – hatte einfach mal drauf gehalten, wie er sagte. „Nein, ich wusste nicht welche Entfernung das war, vielleicht 25 Meter“, schätzte er später. Nein, genau 33,1 Meter errechnete der Computer. Wohl kaum einer im Stadion glaubte an irgendeine Gefahr für Haas im Uniontor. Der Torhüter wohl eingeschlossen. Aber die hoch technologisierte Plastikkugel erwies sich als ein genial „fallendes Blatt“ und senkte sich hinter dem nun vergeblich sich reckenden Hass ins Netz. Die Bochumer, die genau hinter dem Gerüst aus Stange und Pfosten in der Sonne schwitzten, hatten nun allen Grund, sich ihre Oberbekleidung von der Haut zu reißen.
Für die Unioner auf dem Platz und auf den Rängen war dieser Treffer nun das endgültige Startsignal, zu beweisen, dass hier nur einer regiert, nämlich der FCU. Plötzlich kam noch einmal Druck in ihr Spiel. Die Tribünen peitschten ihre Kicker regelrecht in Richtung des Tores von Andreas Luthe, der nun nicht gerade über Mangel an Arbeit klagen konnte. Wilde Szenen spielte sich oft im Strafraum ab. Luthe der Gute rettete grandios gegen Adam Nemez und Steven Skrzybski. Trainer Neuhaus setzte nun auf alles und wechselte Mit Simon Terodde einen dritten Stürmer ein. Einige umstrittene Szenen erregten das Publikum, aber weniger den Referee. Dann ein Freistoß nahe des Strafraumecks. Der „beste Mann“ für diese Situation – Torsten Mattuschka – saß schon auf der Bank. Damir Kreilach legte sich den Ball zurecht und drehte ihn unerwartet direkt ins Tor.
Nur noch vier Minuten bis zum Ende. Das Stadion tobte, alle wollten nun den Sieg. Auch die Bochumer. Kalt wie Eis konterten sie nun gegen den eisernen Sturm. Und nur zwei Minuten nach dem Ausgleich flog eine Flanke an die ausgestreckte Hand von Unions Innenverteidiger Mario Eggimann. „Ich bekam einen Stoß in den Rücken und verlor das Gleichgewicht“, begründete er später niedergeschlagen die mit dem Elfmeter bestrafte Handbewegung. Aber er war nur das letzte Glied in jener „dummen „ Spielszene, die alles entschied. „Wir wollten vielleicht etwas zu viel“, sagte nach dem Spiel Kapitän Mattuschka. Und fügte trotzig hinzu: „Dann müssen wir eben am Freitag die drei Punkte in Bielefeld holen.“