Dafür waren wir aber auf „Die Spur des Bienenfressers“ von Nii Parkes vorbereitet, weil wir die Veröffentlichungen des Unionsverlages genau registrieren, weil in diesem Schweizer Verlag immer wieder hervorragende Kriminalromane erscheinen, wie zuvor „Rostmond“ von Gary Disher auf Platz 5 der letzten Liste, der nun auf Platz 8 abgerutscht ist, aber das ist ja auch etwas. Dort waren wir im fernen Australien, das so nah schien und nun sind wir im näheren Afrika, das so fern scheint. In Sonokrom in Ghana, dessen Totenkult mitten im Leben dem Museum in Bern vor Jahren eine große Ausstellung Wert war, zu Recht, kann man die Zwiesprache mit den dicht bei und unter einem wohnenden Vorfahren verfolgen, die aber aufgerüttelt wird durch ein schreckliches Ereignis und einen Verschwundenen. Was dann passiert, vereinbart alle Vorurteile, die wir über afrikanisch-esoterische Ermittlungsmethoden überhaupt haben können, mit denen der modernen Wissenschaft, was in der Pathologie sicher ein gewaltiges Unterfangen ist, dem sich aber der Gerichtsmediziner Dr. Kayo ausgesetzt sieht. Und wie immer kommt es dann doch ans Tageslicht, was unter der Decke Erde bleiben sollte.
Dies ist der erste Roman von Nii Parkes, der in England geboren, nach Ghana ging und heute in London und Accra lebt. Ein kluger Autor, dem es gelingt, uns zum Lachen zu bringen ob seiner Komik, aber auch zum Nachdenken, ob seiner Weisheit über das Leben. Hier und dort. Im übrigen ist es spannend zu lesen, wie Affären des Ministers in Ghana tatsächlich darüber entscheiden, ob eine Leiche auf ihren Tod hin untersucht wird oder einfach vor sich hin gammelt. Neu ist auch direkt auf Platz 5 „Tokio, besetzte Stadt“ von David Peace, erschienen bei Liebeskind, auch schon immer ein gesetzter Platz, wenn ein neuer Peace kommt und immer wieder ist bei den Bestenkrimis auch der Verlag Liebeskind dabei. Zwar liegt er schon vor uns, dieser historische Kriminalroman, aber wir wissen noch nicht, wie Peace diesmal das Fortwirken der japanischen Kriegsverbrechen in der Besatzungszeit Tokios aufgreift.
Auch Thomas Willmanns „Das finstere Tal“ ist bei Liebeskind erschienen und wird wie der neue Peace das nächste Mal gewürdigt, bisher wissen wir nur, daß es sich um eine Debüt handelt und ein Italowestern mitten im Alpenhochland ist. Frank Göhre ist mit „Der Auserwählte“ aus dem Verlag Pendragon vom neunten auf den sechsten Platz vorgerückt. Wir haben uns ja schon oft Gedanken gemacht, wie die Hin- und Herschieberei zu erklären ist, wobei für alle Plätze und für alle Krimis gilt, daß das persönliche Entscheidungen sind, die dann durch Mehrheit zustandekommen, es aber gut sein kann, daß Ihr absoluter Favorit und Lieblingskrimi oder Krimiautor, erst recht Autorinnen, nicht dabei sind und trotzdem gut bleiben, zumindest für Sie.
Dazu gibt Ihnen auch Marcel Proust seinen Segen, denn der hat einmal gesagt, wir seien die Leser unserer selbst und meinte damit, daß erst durch das Lesen der Prozeß des Schreibens abgeschlossen wird, weil wir es sind, die den Büchern ihre Bedeutung geben, was oft mit unseren eigenen Erfahrungen und eben unserem Leben zusammenhängt. Auch in „Der Auserwählte“ von Frank Göhre, erschienen im Verlag Pendragon, haben wir einen Afrikaner, aber einen, der in Hamburg lebt, heimlich, was bei uns illegal heißt und noch dazu ein Drogentyp ist, dem der Sohn einer superreichen Familie, namens Eloi, das nämlich bedeutet auserwählt, Drogengeld schuldet. Aber statt der Geldprobleme hat Eloi nun wohl andere. Denn er ist verschwunden und in den besseren Kreisen in Hamburg geht es rund. Es war Kidnapping und die Entführer wollen fünf Millionen. Was ist mit der Mutter?
Nicht Afrika ist ein Schlüssel, sondern ausgerechnet die Kanaren, wo diese Bettina sich einst – wie in Österreich – im Dunstkreis einer Sekte aufgehalten hatte, aber nicht nur das, auch mit dem Oberhaupt der Hörigen ein Gspusi hatte – kommt Ihnen bekannt vor, gab es alles wirklich – und ein schreckliches Geheimnis mitnahm. Der Vater? Ja, das ist es eben, wer ist der Vater? Schuld auf jeden Fall liegt bei denen, die in den Sechzigern zu etwas anderem aufgebrochen waren, als sie dann fabrizierten.
Der norwegische Bestseller „Headhunter“ von Jo Nesbí¸, herausgekommen bei Ullstein, ist leicht deplaziert, aber auch der zehnte Platz ist ein veritabler Platz. Seine Hauptperson scheitert an sich selbst und ihrer Hybris. Was den Krimi auszeichnet ist seine Spannung und daß uns Nesbí¸ eine Welt vorführt, die wir in der Regel nur aus dem Kino kennen. Der Verlag hat im Anschluß an den Romanabdruck etwas Ungewöhnliches gemacht. Dort sind 17 Seiten abgedruckt von Nesbí¸s Erfolgsroman „Leopard“, dessen Anfang, in denen sein Kultkommissar Harry Hole die Ermittlungen aufnimmt. Wo? In Honkong, wo er aber nicht bleibt. Das ist ein schräger Krimi, weshalb wir die Werbung des Verlages auch mal mitmachen.
Bleiben die beiden bewährten Krimis auf Platz Eins und Zwei, die beide aus dem Fischer Verlag sind, der – so wie Suhrkamp – jetzt kräftig mitmischt im Genre Kriminalromane und das gleich in der oberen Klasse. Richard Price hat mit „Cash“ einen Wahrheitsroman über New York geschrieben, genauer: von der Lower East Side und ihren Bewohnern, heruntergekommen, nicht nur sozial, auch von ihren Träumen und Illusionen, von sich, vom Leben, vom Erfolg. Jeder erzählt, was für ihn das Beste scheint, auch den Polizeibeamten, die nicht wissen, an wen sie sich halten können. Die Handlung. Eigentlich geht die verloren. Dafür schärft sich beim Lesen das Bewußtsein, für die Gesamtatmosphäre dieser Stadt und ihrer Bewohner.
Auch Jenny Siler ist Amerikanerin und auch „Verschärftes Verhör“ im Fischer Taschenbuch Verlag ist ein amerikanischer Krimi, der aber auch in Nordafrika und Kleinasien Wurzeln hat und dessen Ausläufer dann Europa berühren. Das Geschehen dreht sich um Katherine Caldwell, Arabisch-Expertin, die an der Militärhochschule in Virginia unterrichtet. So sehr sie noch am Anfang glaubt, Herrin des Geschehens und Schutz für Jamal sei, den sie in Afghanistan verhört hatte, wird sie selbst zum Spielball von Interessen, die sie durchschauen muß, will sie überleben. Denn auch um ihren Kopf geht es. Und um den von Jamal. Jenny Siler hatte schon in den letzten Jahren zwei Kriminalromane auf der Bestenliste plaziert. Jedes Mal sind die Sujets andere, aber jedesmal ist einfach viel dahinter und man wähnt sich tatsächlich bei der Auflösung von Weltgeheimnissen. Und jetzt kommen Sie und die Lektüre.
Lfd. Nr. |
Rang |
Vor-monat |
Titel |
1 |
1 |
(-) |
Don Winslow: Tage der Toten Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte Suhrkamp, PB, 689 S., 14,95 € USA/Mexiko/Mittelamerika: Dreißig Jahre Drogenkrieg, Antikommunismus, Mord, Folter, Armut und imperiale Gewalt. Don Winslows Epos um US-Drogenfahnder Art Keller und seine keineswegs private Fehde mit den Barreras aus Guadalajara ist das „Krieg und Frieden“ unserer Tage. Epochal, grandios, erschütternd. |
2 |
2 |
(1) |
Richard Price: Cash Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow S. Fischer, geb., 524 S., 19,95 Lower East Side, Manhattan: Mit Ultra-Dokumentar-Seelen-Kamera entflicht Price alle Handlungs- und Beziehungsimplikationen eines irgendwie systemischen Totschlags, scharf, unscharf und aus der Totale. Keiner ist böse. Alles geschieht. Niemand versteht es. Tod als Anlass, weiter zu machen wie bisher. |
3 |
3 |
(3) |
Jenny Siler: Verschärftes Verhör Aus dem Amerikanischen von Susanne Goga-Klinkenberg Fischer, TB, 320 S., 8,95 € Afghanistan/Vietnam/Marokko/Spanien: Geheimdienstler gieren überall nach Information. Der junge Jamal behauptet, in Madrid einen iranischen Ex-Mitgefangenen gesehen zu haben. Kat hat Jamal in Bagram verhört, jetzt zieht sie los ihn zu finden. Oder hilft sie, ihn umzubringen? Silers US-Empire: ein Weltmeer der Gewalt. |
4 |
4 |
(-) |
Nii Parkes: Die Spur des Bienenfressers Aus dem Englischen von Uta Goridis Metro im Unionsverlag, PB, 224 S. 16,90 € Accra/Sonokrom: Yaw Poku, traditioneller Jäger, und Kayo, in England ausgebildeter Tatortanalytiker. Zwei Ermittler, zwei Kulturen, zwei Lösungen. Ohne die Mätresse des Ministers wäre im Dorf Sonokrom nur ein Stück Fleisch vergammelt, jetzt ist es Mord im unzivilisierten Hinterland Ghanas. Satirisch, poetisch, ein Kleinod. |
5 |
5 |
(-) |
David Peace: Tokio, besetzte Stadt Aus dem Englischen von Peter Torberg Liebeskind, geb., 352 S., 22,00 € Tokio 1948: Als Amtsarzt, vorgeblich im Auftrag der US-Besatzungsbehörden, impft er die Angestellten einer Bank: von 16 Vergifteten überleben 4. Nach Polizeifolter geständig verurteilt: Aquarellmaler Hirasawa. Peace auf neuem Weg: 12 Zeugen, 12 Wahrheiten über Kriegs- und Nachkriegsverbrechen, Biologische Waffen, Besatzung. Meisterhaft. |
6 |
6 |
(9) |
Frank Göhre: Der Auserwählte Pendragon, TB, 260 S., 9,95 € Hamburg/Gomera: Bettina ist reich, Klaus ist ihr Deck-Mann. Als ihr Sohn, der „Auserwählte“, entführt wird, werden Bettinas Lebenslügen offenbar. Die Hamburger Millionenerbin war Mitglied einer Psychosekte. Mit spitzer Feder skizziert: 68er und ihr Selbstbetrug. Nach wahren Begebenheiten von Stichelmeister Göhre. |
7 |
7 |
(8) |
Derek Nikitas: Scheiterhaufen Aus dem Amerikanischen von Jens Seeling Seeling Verlag, PB, 368 S., 15,00 € Monroe County, New York: Lucias Leben wird nicht von der Lichtgöttin bestimmt, nach der sie genannt wurde. Als die Sechzehnjährige erlebt, wie ihr Vater erschossen wird, ist das erst der Anfang einer wilden, kriegerischen Jagd. Gewissheit, Sicherheit, Familie – alles kaputt. Mitreißendes Debüt, tolle Entdeckung. |
8 |
8 |
(5) |
Garry Disher: Rostmond Aus dem Englischen von Peter Torberg Unionsverlag, geb., 348 S., 19,90 € Mornington Peninsula, Australien: Mondfinsternis, Schulabschlussfeiern, das übliche Chaos. Erschlagen: ein rassistischer Schulkaplan, eine brave Bauplanerin. Inspektor Hal Challis und seine Leute stochern im Zivilisationsschutt. Fünfter Band des australischen Gesellschaftsporträts. Dishers Blick: unbeirrt, nüchtern. |
9 |
9 |
(-) |
Thomas Willmann: Das finstere Tal Liebeskind, geb., 320 S., 19,80 € Deutsches Gebirgstal/Wilder Westen: Greider dringt in das abgelegene Hochtal vor, wo die Brenners mächtig sind. Den Winter über malt er ein Gruppenbild. Am Ende werden alle Porträtierten tot sein. Eine Gewaltgeschichte – jedes Komma 19. Jahrhundert. Alpin-Western und Blutheimat-Roman. Tolles Stück. |
10 |
10 |
(5) |
Jo Nesbí¸: Headhunter Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob Ullstein, Paperback, 256 S., 14,95 € Oslo: Roger Brown ist ein Arschloch wie es im Buche steht, ein Kopfjäger – respektive: Headhunter – und Menschenverächter, Machotyp 21. Jahrhundert. Die Liebe zu Kunstwerten eingeschlossen, die er seinen Jobaspiranten klaut. Unaufhaltsam – bis er auf Kunstfreund Greve trifft. Der Flitzer unter Nesbí¸s Werken. |
Die „Bestenliste“ wird im Hörfunk immer am letzten Wochenende des Monats: Samstag, 25. September 2010 gegen 8.40 Uhr live; Sonntag, 26. September, 15.05 – 16.00 Uhr in der „Literaturzeit“ des NordwestRadio vorgestellt sowie in der Literarischen Welt am 25. September 2010. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem letzten Samstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
Die Jury hat sich gerade verändert und setzt sich zusammen aus:
Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt Volker
Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, Berg, „Druckfrisch“, Dlf, BR
Sven Boedecker, Zürich, Sonntagszeitung
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Thomas Klingenmaier, Stuttgart, Stuttgarter Zeitung
Ekkehard Knörer, Berlin, Perlentaucher, Crime Corner
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau
Jochen Vogt, Literaturwissenschaftler
Hendrik Werner, Bremen, DIE WELT
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist Freitag, Plärrer
In der Jury der KrimiWelt-Bestenliste hat es einige Veränderungen gegeben: Kathrin Fischer und Jochen Schmidt sind ausgeschieden. Neu hinzugekommen ist Jochen Vogt, einer der wenigen akademischen Literaturwissenschaftler, der den Kriminalroman schon vor Jahrzehnten erforscht hat.
Alle weiteren plazierten Krimis entnehmen Sie bitte den Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Dreimal darf ein Buch einen Platz bekommen, dann scheidet es aus und hat nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die diesmal Ende Januar herauskommt.
Unter www.arte.tv/krimiwelt finden Sie die Bestenliste mit Kurzrezensionen der Juroren, Kommentaren des Jurysprechers („What’s New?“) und weiteren Informationen zu Büchern und Autoren („Krimiautoren A-Z“).