Berlin, Deutschland (Weltexpress). Ausgerechnet am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz wurde ein jüdisch-israelischer Aktivist in Berlin vor Gericht gestellt. Ihm drohen bis zu drei Jahre Haft wegen einer auf X geposteten Parole. Der Beschuldigte wirft dem deutschen Staat Geschichtsklitterung und Täter-Opfer-Umkehr vor.
Die Geschichtsklitterung nimmt in Deutschland absurde Ausmaße an. Während Israels Präsident Itzchak Herzog den Gedenktag an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee vor 80 Jahren dafür missbrauchte, Muslime zum neuen Übel der Welt zu erklären, gegen das die Vereinten Nationen „mutig kämpfen“ müssten, sollte am selben Tag ein jüdisch-israelischer Palästina-Aktivist vor dem Amtsgericht Tiergarten wegen eines kritischen X-Postings zur israelischen Besatzung verurteilt werden. Der Prozess wurde aber kurz nach der Eröffnung wegen Krankheit vertagt.
Verfolgt wegen eines X-Postings
Der israelische Filmemacher und Aktivist in der Palästina-Solidarität, Dror Dayan, steht im Visier der deutschen Behörden. Am 27. Januar, dem 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durch die Sowjetarmee, sollte ihm in Berlin der Prozess gemacht werden. Er habe „Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen“ verwendet, so der Vorwurf. Ihm drohen deshalb bis zu drei Jahren Haft. Weil eine Gutachterin verhindert war, verschob das Amtsgericht Tiergarten den Prozess auf den 5. Mai 2025.
Dayan, der sich in dem linken jüdischen Verein „Jüdische Stimme“ engagiert, wird seit April 2024 von der deutschen Justiz wegen eines X-Postings verfolgt. Ende 2023, kurz nach dem Angriff der Hamas auf Israel und dem anschließenden Beginn des israelischen Rachefeldzuges gegen die Bevölkerung im Gazastreifen, hatte er eine zunehmende Kriminalisierung von Gegnern der völkerrechtswidrigen Besatzung der palästinensischen Gebiete und des befürchteten Völkermordes kritisiert.
„Sündenbock der Nazienkel“
Dayan zitierte in seinem Posting die kurz zuvor verbotene Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“ (Vom Fluss bis zum Meer – Palästina soll frei sein). Er nahm dabei Bezug auf einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung, in dem es hieß, dieser Spruch werde künftig ähnlich geahndet wie etwa das öffentliche Zurschaustellen eines Hakenkreuzes oder anderer Nazisymbole. Dazu schrieb er: „Wir lassen die Geschichte nicht umschreiben. Palästina-Solidarität wird nicht zum Sündenbock der Nazienkel. Eure Verbrechen, nicht unsere.“
„Repressionen, um Völkermord zu rechtfertigen“
Diese Parole wird seit langem von zionistischen Befürwortern eines „Großisraels“ verwendet. Strafbar ist sie in Deutschland aber nur, wenn Menschen sie benutzen, die sich für ein Ende der völkerrechtswidrigen Besatzung, verbunden mit Landraub, Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser, durch den Staat Israel einsetzen. Dayan will das nicht hinnehmen. Im Gespräch mit der Autorin sagte er: „Was wir sehen, ist nicht nur die Illegalisierung der Solidarität mit der seit Jahrzehnten unterdrückten palästinensischen Bevölkerung. Sondern es sind Repressionen, ohne die der deutsche Staat seine Unterstützung für einen Völkermord nicht mehr rechtfertigen kann.“
„Krasse Verharmlosung des Holocausts“
Seit dem Hamas-Angriff aus der seit 2007 strikt abgeriegelten und blockierten Gaza-Enklave am 7. Oktober 2023 hätten diese Repressionen massiv zugenommen, führte Dayan gegenüber der Autorin aus. Er hält das für eine „Täter-Opfer-Umkehr“, die teils so weit gehe, dass die Hamas und andere Gruppen des bewaffneten Widerstands oder sogar alle Palästinenser mit den Nazis gleichgesetzt würden. Damit wolle man dann die Totalzerstörung des Gazastreifens „wie in Dresden“ rechtfertigen, mahnte er und fügte an: „Man kann aber eine brutal unterdrückte Bevölkerung nicht mit dem deutschen Naziregime an der Macht eines imperialistischen Staats gleichsetzen – das ist eine krasse Verharmlosung der Naziverbrechen bis hin zum Holocaust.“
Hasskampagnen und Schikanen
Als in Jerusalem geborener Nachkomme verfolgter jüdischer Kommunisten aus Berlin ist Dror Dayan seit vielen Jahren Hasskampagnen aus dem Milieu sogenannter „Antideutscher“ ausgesetzt. Von diesen wird er zum Beispiel öffentlich als jüdischer Vaterlandsverräter oder gar selbsthassender Jude tituliert.
Die „Antideutschen“, von denen sich viele selbst nicht mehr so bezeichnen, gingen zwar vor 35 Jahren aus linken Gruppen hervor, sind aber längst zu pro-imperialistischen Sprachrohren der USA und Israels geworden, deren anti-arabischer Rassismus dem von Rechtsextremen wenig nachsteht. Darüber hinaus definieren sie bloße Kritik am Kapitalismus als Antisemitismus, weil damit angeblich Juden gemeint seien.
Auch Schikanen vonseiten deutscher Behörden ist Dayan regelmäßig ausgesetzt. So wurde er zum Beispiel im vergangenen Oktober am Berliner Flughafen festgehalten und durchsucht, weil er mutmaßlich zuvor an angemeldeten Demonstrationen teilgenommen habe, auf denen „verfassungswidrige Symbole“ gezeigt und das Existenzrecht Israels bestritten worden sei.
Kritische Juden als „Antisemiten“ verfolgt
Er ist nicht der einzige Jude, dem es in Deutschland so ergeht. So wurde beispielsweise dem Verein Oyoun vom Berliner Senat Ende 2023 die Förderung entzogen und die Unterkunft gekündigt, weil er Vertreter der Jüdischen Stimme eingeladen hatte, die sich gegen die Besatzung einsetzen. Dies wird in der Bundesrepublik bekanntlich als „Antisemitismus“ gewertet. Dem Verein Jüdische Stimme kündigte die Berliner Sparkasse kurz darauf das Konto.
Auch Hausdurchsuchungen, Veranstaltungsverbote und Einreisesperren gehören inzwischen zu den alltäglichen Repressionen gegen Palästina-Aktivisten, darunter etliche linke Juden, viele davon in Israel geboren. Anders ausgedrückt: Deutschland schreibt Juden vor, wie sie zur politischen Besatzungspraxis Israels zu stehen haben. Wer sie nicht befürwortet, wird zum „selbsthassenden Antisemiten“ gestempelt.
Dabei hatte sogar der Internationale Gerichtshof vergangenen Sommer die israelische Besatzungspraxis in einem Gutachten als schweren Verstoß gegen internationales Recht gewertet. Damit verletze Israel andauernd grundlegende Menschenrechte der palästinensischen Bevölkerung. Das Gericht forderte den sofortigen Rückzug Israels aus den palästinensischen Gebieten.
Britische Gewerkschaft ruft zur Solidarität auf
Die britische Gewerkschaft „University and College Union“ in Liverpool setzt sich immerhin für Dror Dayan ein. Dort lehrt der Aktivist Medienproduktion und Dokumentarfilm. Sie hat vor dem Prozess eine Online-Petition für Solidarität mit ihm und der Palästina-Bewegung gestartet.
Die Verfolgung des Slogans „From the river to the see…“ mit der Verfolgung von Nazisymbolen gleichzusetzen, wie es Dayan kritisiert hatte, sei „ein weiterer gefährlicher Schritt zur Verharmlosung des Holocaust und der Nazi-Verbrechen in Deutschland, zur Entmenschlichung und Kriminalisierung der Palästina-Solidarität und zur Unterdrückung von Dissens und freier Meinungsäußerung“, heißt es darin.
Die Initiatoren der Petition rügen auch das Versagen der deutschen Linken. Sie „rufen alle deutschen Gewerkschaften, insbesondere unseren Partner GEW, dazu auf, ihr beschämendes Schweigen zu brechen und sich gegen diesen Eingriff in die Grundrechte und die Meinungsfreiheit zu positionieren.“
Insbesondere die Wahl des – nun vertagten – Gerichtstermins bezeichnete Dayan als Zeugnis vergangenheitspolitischer Ignoranz. Ironisch erklärte er: „Es gibt keinen besseren Tag, um einen Juden vor ein deutsches Gericht zu stellen, als den Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts.“
Anmerkung:
Vorstehender Beitrag von Susan Bonath wurde unter dem Titel „Prozess am Holocaust-Gedenktag: Wie Deutschland einen jüdischen Besatzungskritiker schikaniert“ am 28.1.2025 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.
Siehe auch die Beiträge
- Ein Buch des Grauens zur Geschichte von Auschwitz – Annotation von Frank Willmann
- Stimmen der Verzweiflung und Violinen der Hoffnung – Die Berliner Philharmoniker und die Berliner Symphoniker gedachten des 70. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz von Sigurd Schulze
- Wer hat gewonnen und „wer hat wem geholfen“, im Zweiten Weltkrieg zu gewinnen? von Gerhard Feldbauer
- „Auschwitz zu besuchen ist nicht leicht. Aber es ist notwendig.“ – Vor 75 Jahren befreite die Rote Armee der UdSSR das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von Paul Puma
im WELTEXPRESS.
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