Prima la musica! – Sollte sich die klassische Musik dem Zeitgeist anpassen?

Bülow © Brahms Institut Lübeck

Klar, sie johlten bei Bohlen, aber sie würden ganz andächtig, wenn ein Büroangestellter im unvorteilhaft engen Strickpulli die große Schluss-Arie des Scarpia aus Puccinis ’Tosca` anstimme. Was er wohl mit dem Worte ’Heide` ausdrücken wollte?
In der FAZ betitelte Elenore Bünung ihren Nachruf auf den Komponisten Hans Werner Henze  mit den Worten ’Er suchte die Schönheit und den Glanz der Wahrheit`.  Man darf annehmen, dass es also auch in der aktuellen oberflächlichen Zeit noch eine Art Sehnsucht nach einer transzendenten Vollkommenheit zu geben scheint. Ob es nun der ’Heide` ist oder die feingeistige Elenore Bünung, diese Sehnsucht scheint ein Urbedürfnis der Menschen zu sein. Übrigens, Herr Gottschalk dürfte wohl die Schlussarie des Cavaradossi ’E lucevan le stelle` gemeint haben, denn Scarpia ist im Finale der Oper nicht mehr präsent.

Kürzlich wurde die Moderatorin während einer Gala in der Deutschen Oper Berlin ausgepfiffen, weil sie von Opern nicht so wirklich viel verstand und in den bekannten Klassik-Internet-Foren wird regelmäßig über Damen und Herren die Nase gerümpft, die mit viel Glamour, aber mit wenig Sachkenntnis, von den großen Musik-Events berichten. Manch Falsches ist dort über die Opern Richard Wagners zu hören, denn die Familiengeschichte der Nibelungen, und auch die des Wagnerclans, beinhalten massenhaft Stolperfallen für Boulevard-Journalisten. Hat es die Klassikwelt wirklich nötig immer wieder Persönlichkeiten aus der Showbranche auf die Bühne zu stellen, um aktuell zu wirken? Auf Facebook zirkulierte ein Video von einer Sopranistin im langen Abendkleid, die zum hohen Schlusston noch ein Rad schlägt. Einfach grotesk! Und muss jedes größere Opernhaus seinen Opernball haben? Muss jeder Dirigent zum Superstar gekürt werden, kann das Publikum nicht selbst unterscheiden zwischen tief empfundenem Musizieren und Oberflächlichkeit?

’Artistical Vanity` sowie ’Fake Humanity` schaden immer

Die westliche Welt befindet sich in einer Sinnkrise und gerade in Deutschland scheint man der Tradition nicht mehr zu vertrauen, wie auch? Nach einer desaströsen Vergangenheit in der jüngeren Geschichte, trifft man immer noch viele Jugendliche, die mit einem Schuldkomplex aufgewachsen sind.  Wird in Fernost die europäische Klassik gefeiert und fast auf eine transzendenten Art und Weise erlebt, so ist diese in Westeuropa in eine Krise geraten. Das Bildungsbürgertum ist eigentlich nicht mehr vorhanden, um jüngere Generationen in die Konzert- und Opernhäuser zu holen, orientiert man sich an Film und Fernsehen, doch das scheint offensichtlich der falsche Weg zu sein.

Dennoch sucht auch der westliche Mensch nach Authensität in der Kunst, das unmittelbare Musizieren, das augenblicklich fasziniert und über die Emotionen hinaus das höhere Sein im Menschen berührt. Das war schon immer das Ziel der Musik, im Osten, wie auch im Westen des Globus. Das sogenannte deutsche Regietheater, das sehr viele Klassikfreunde aus den Opernhäusern verjagt hat, ist ebenfalls ein Irrweg. Diese überaus extreme Aktualisierung verhindert, dass der Zuschauer sich in den Protagonisten erkennen kann. Wer möchte schon so hässlich und ungepflegt sein, sich in der untersten Schublade des menschlichen Daseins wiederfinden, wie es aktuell auf Deutschlands Bühnen gezeigt wird? Ein Einheitsbrei aus Düsterem, Blut, Sex, Verwüstungen, Aktenkoffern, Alkohol usw. gehört zum Standard auf vielen Opernbühnen. Natürlich muss es auch nicht die kitschige heile Welt sein, doch wäre es angebracht  Operninszenierungen auf die Bühne zu bringen, mit der sich viele Menschen identifizieren könnten. Dem Werk Raum zu lassen, sollte die oberste Pflicht des Regisseurs sein. Denn immer war es die Absicht der Opernkomponisten eine Art  Katharsis beim Publikum zu bewirken, also eine seelische Erkenntnis oder gar Reinigung  hervorzurufen. Und hier sind wir bei der Urform des europäischen Theaters, dem Theater der Antike angelangt.

Peter Brook schreibt in seinem Buch ’Der leere Raum` über  vier Arten: Das tödliche Theater, Das Heilige Theater, Das derbe Theater und Das unmittelbare Theater. Zumeist erleben wir das aktuelle Musiktheater als Derbes Theater. Jerzy Grotowski – ein polnischer Theatervisionär – glaubte, dass das Theater kein Selbstzweck sein kann, sondern ein Mittel zum Selbststudium. Diese Überzeugung vertraten auch die großen Dichter der Antike. Selbstfindung, Selbststudium, Katharsis, wer kann heute noch mit diesen Worten etwas anfangen? Dennoch sollte die Gesellschaft den Weg dorthin wieder suchen, denn das europäische Theater basiert auf dem Theater der Antike,  auch  jede Oper basiert auf dieser Grundidee , die es zu schützen gilt. In England hat Shakespeare dieses Ideal erneut aufgenommen, in Deutschland ging Richard Wagner mit seinen Musikdramen gänzlich neue Wege, doch angelehnt an die Antike.

Dass dem Musiktheater aus dieser Sicht noch eine intensivere Wirkung zugeordnet werden sollte, muss wohl nicht erklärt werden, denn durch das Medium Musik fließt geistige Information direkt in das höhere Bewusstsein des Menschen, ohne vom Intellekt analysiert zu werden, wie es teilweise bei der bildenden Kunst der Fall ist. Jeder Ton steht nur für kurze Zeit im Raum und ist dann nicht mehr vorhanden, daher ist es von großer Wichtigkeit, dass Dirigent und Orchester sich als musikalische Baumeister verstehen und der Partitur eine bezwingende Form verleihen, die zum Publikum spricht, es bewegt und die Menschen mit auf eine spirituelle Klangreise nimmt, die visuell von einem Inszenierungsteam entsprechend ausgestattet ist. Das Orchester ist der Motor einer jeden Opernaufführung, Dirigent und Regisseur sollten ein gemeinsames Konzept erarbeiten. Doch momentan scheint das Orchester oft zu einer Art begleitendem Soundtrack verstanden zu werden, der untergeordnet zur Szene agiert. Daher sind Filmregisseure, die aktuell im Musiktheater gerne engagiert werden, selten in der Lage, eine wirklich überzeugende Inszenierung im Geiste der Musik abzuliefern. Film und Oper sind letztendlich zwei vollkommen gegensätzliche Kunstformen.

Lassen wir Friedrich Herzfeld (1897-1967), ein renommierter Berliner Kritiker, sprechen, seine Worte belegen eindrucksvoll die eminente Wichtigkeit des Dirigenten: „ Er ist das entscheidende Glied in dem Dreiecksspiel zwischen Schöpfer, Wiedergebenden und Hörenden. Keiner der drei könnte ohne die beiden anderen bestehen. Zwar ist der Schöpfer die Voraussetzung zu allem. Ohne sein Werk vermögen Wiedergebende und Hörende nichts ausrichten.  Aber gäbe es diese nicht, so würde er sein Werk auch niemals erschaffen, denn alles Schaffen setzt sich ein Ziel: von Menschen empfangen zu werden und in ihnen etwas auszulösen.“

In einem Orchester verpflichten sich die vielen Einzelnen zu einer Gemeinsamkeit,  der Dirigent lenkt diese Gemeinsamkeit anhand seiner mentalen musikalischen Ausdruckskraft in eine Dimension, die zu einer geistigen Übersteigerung führen kann, auf beiden Seiten des Orchestergrabens. Denn nur wenn die Musik über eine innerlich stark schwingende Dynamik und Energie verfügt, kann sie berühren.  So etwas gelingt nicht bei einem bloßen Abspielen der Noten oder mit einem medienwirksam eingeübten Dirigierstil. Das Musizieren auf dieser höheren Geistesebene ist es, was alle Beteiligten suchen, und wenn das gelingt,  kann die Musik zur ’Schönheit im Glanze der Wahrheit` werden.

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