Üblicherweise dauern die vier Teile des Rings 15 Stunden und werden, wenn überhaupt, an vier Abenden einer Woche aufgeführt. Eine sehr aufwendige Produktion für Orchester, Sänger, Ausstattung und Organisation, und die zudem ein Publikum voraussetzt, das Zeit und Geld für vier teure Eintrittskarten investieren will.
Der Musikwissenschaftler, Dirigent und Schallplattenproduzent Cord Garben hat eine Fassung des Wagnerschen Musikdramas geschaffen, die in sieben Stunden an einem Nachmittag und Abend gespielt werden kann. Nach seiner Analyse besteht jeder Teil des »Rings« aus der (logischen) Handlung, aus Rückblicken und philosophischen Betrachtungen. Garben findet, dass »Siegfried« und »Götterdämmerung« eigentlich eine Oper sind. Und in der 2. Szene der »Walküre« lässt sich zum Beispiel das auf (immer noch) 71 Minuten gekürzte »Rheingold« einbauen. Straffungen sind möglich, ohne die Partituren zu vergewaltigen – also von 15 Stunden auf 7 Stunden.
Garben beruft sich auf die Theaterpraxis im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, wo im Theater gegessen, getrunken und geraucht wurde und wo im Prinzip kein Stück oder keine Oper ungekürzt gespielt wurden. Zum Beispiel entdeckte er in der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar die Partitur der Uraufführung des »Lohengrin«, die nur zwei Drittel des Wagnerschen Originals enthielt. Als erfahrener Plattenproduzent fand er durch Probeschnitte heraus, dass Wagners Musik aus Modulen besteht, die kombinierbar sind.
Ist ein Bannfluch aus Bayreuth zu befürchten?
Katharina Wagner – dort Festspielleiterin, hier aber Regisseurin am Theater, wie sie betont – hält Garbens Angebot für »einen extrem mutigen Schritt von hervorragender Qualität, für den ich sofort Feuer und Flamme war. Das ist praktikabler und auch eine Frage des Eintrittspreises. Am Teatro Colón werde ich zudem traumhafte technische Bedingungen haben.« Für Bayreuth sei dieses Modell nicht notwendig.
Das Teatro Colón mit seinen 2 500 Sitz- und 1 000 Stehplätzen war nach seiner Einweihung 1908 eines der bedeutendsten Opernhäuser der Welt. Generaldirektor Pedro Pablo Garcia Caffi erklärt das auch mit der in jener Zeit großen Immigration aus Europa: Italien, Spanien, Deutschland, Russland – die ein reiches, vielseitiges Kulturleben prägte. Bereits 1922 spielte das Theater achtzehn mal den »Ring«. Engagiert waren viele Operngrössen dieser Zeit. Danach gab es keine Aufführung in Lateinamerika mehr. Nach der kompletten Restaurierung (2007 bis 2010) und der Ausstattung mit modernster Technik freut sich das »Colón« auf eine innovative und dennoch originalgetreue Interpretation. Katharina Wagner will das Bühnenbild so gestalten lassen, dass es auch für Gastspiele in kleineren Häusern geeignet ist. Auch ein Gastspiel in Berlin könnte sie sich vorstellen. Die brasilianische Regierung nimmt das Vorhaben so ernst, dass sie im Kulturministerium eine erfahrene Koordinatorin mit seiner Betreuung beauftragt hat – Seniora Cecilia Scalisi.
Das Projekt hat Pilotcharakter. Es bietet sich vielen Ländern »ohne Wagnertradition« an, wie Cord Garben es umschreibt. Zum Beispiel zeigt die Intendantin der Oper in Brisbane/Australien starkes Interesse an dem komprimierten Werk. Eine Aufführung des Mammutwerkes ist nicht nur für die Länder der sogenannten Dritten Welt finanziell unerschwinglich. Der »Ring Kompakt« könne jedem Theater der Welt helfen, ihn mit nur einem Drittel der Kosten aufzuführen, meint Garben. »Ohne-Wagner-Tradition« ist freilich nicht so harmlos, wie es klingt. Die israelische Öffentlichkeit lehnt bekanntlich Wagner wegen seines Antisemitismus ab.
Katharina Wagner will den »Ring Kompakt« ausdrücklich nicht als Experiment verstanden wissen. Vielleicht sieht sie ihn als Weg in die Normalität. Auch Garben sieht darin eine Chance, unter der heutigen Jugend, die bereits weitgehend ohne fundierten Musikunterricht aufwächst, die Berührungsängste zu Wagneropern zu mildern.
Wohlan, das könnte Wagner auf der Opernbühne retten.