Verbrechen dieses Ausmaßes waren nicht zu bewältigen ohne ein Heer von Erfüllungs-gehilfen: Ärzte, Richter, Pflege- und Verwaltungspersonal, Hebammen und Wachmannschaften. Eine Schlüsselrolle kam den Ärzten zu, die Behinderte sowohl stationär als auch in ihren Praxen betreuten, die »Erbkranke« meldeten und Gutachten abgaben für die »Erbgesundheitsgerichte« (für Zwangssterilisationen) und später für die Tötungsaktionen. Angesichts von Arbeitslosigkeit und Armut fiel die von den Nazis entfaltete Propaganda für einen »gesunden Volkskörper« auf fruchtbaren Boden.
1935 wurde im Park des Gutes Alt Rehse am Tollensesee die »Führerschule der Deutschen Ärzteschaft« eingeweiht. Dieses Schulungslager – auf Initiative des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes, der sich als »Kampforganisation der Volksgesundheitsidee« verstand, und des Hartmannbundes, dem Martin Bormann 1934 das Gut durch Enteignung zugeschanzt hatte, errichtet – erfreute sich von Anfang an der Gönnerschaft weiterer Nazigrößen wie Rudolf Heß, Gerhard Wagner,»Reichsgesundheitsführer«, und dessen Nachfolger Leonardo Conti.
Bis 1943 wurden in ein- bis zweiwöchigen Lehrgängen etwa 10 000 Ärzte, darunter 2 500 »Jungärzte«, und darüber hinaus 2000 Apotheker und Hebammen geschult. Im Mittelpunkt stand die Rassenlehre und ihre Realisierung. Die Ärzte sollten sich als medizinische Elite und als »ärztliche Führer« im NS-Staat verstehen. Die Wirkung der Kurse auf die ethischen Vorstellungen der Teilnehmer und auf ihre weitere Karriere lässt sich ohne Kenntnis der Biographien vorerst nicht nachweisen. Auch nicht, inwieweit sich die Kursanten schließlich an Verbrechen beteiligten. Wichtigste Quelle wären die Teilnehmerlisten der Lehrgänge. Die wurden vermutlich vor der Einnahme des Ortes durch sowjetische Truppen vernichtet.
Der Aufklärung der in Alt Rehse engagierten Täter – Dozenten und Kursanten – sollte eine Tagung der Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse und der Rosa-Luxemburg-Stiftungen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern vergangene Woche in der Hochschule Neubrandenburg dienen. Die Vorträge von Historikern widmeten sich vorwiegend den Biographien von prominenten Medizinern, die in Alt Rehse Dozenten waren oder den Inhalt der Lehrpläne bestimmten. Judith Hahn, Berlin, analysierte die Karrieren der führenden SS-Ärzte Ernst Robert Grawitz und Karl Gebhardt. Beide hatten Schlüsselstellungen im Sanitätsdienst der SS, ihnen unterstanden die aktiven SS-Ärzte bis zum Lagerarzt. Sie organisierten Menschenversuche an Häftlingen in Konzentrationslagern sowie die Selektionen in den Vernichtungslagern.
Karl Gebhardt erhielt seine Ausbildung zum Chirurgen bei Ferdinand Sauerbruch und Erich Lexer. Dank seiner SS-Mitgliedschaft wurde er 1933 Chef der Heilanstalt Hohenlychen, 1936 Leitender Arzt der Olympiade, 1937 Lehrstuhlleiter für Sportmedizin in Berlin, 1938 Begleitarzt Heinrich Himmlers und 1939 Beratender Chirurg der Waffen-SS. Gebhardt organisierte Menschenversuche im KZ Ravensbrück. Er wurde im Nürnberger Ärzteprozeß 1947 zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Judith Hahn verwirft die These vom SS-ärztlichen Psychopathen, vom Monster und unqualifizierten und charakterlich defekten Einzeltäter. Die Experimente an Gefangenen wurden von anerkannten Forschern durchgeführt, von Fachkollegen anerkannt und gingen in die medizinischen Literatur ein. Medizinverbrechen waren nicht nur von der SS, sondern auch von renommierten Instituten wie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und dem Robert-Koch-Institut sowie der Wehrmacht initiiert. Bekannt ist, dass auch Sauerbruch sich an der Diskussion über Gebhardts Versuche in Ravensbrück beteiligte. Hahn konstatiert die »relative Normalität« der Verbrechen und des Handelns der Ärzte, ohne deren gesellschaftliche Wurzeln zu hinterfragen.
Wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung der Schulungen in Alt Rehse, insbesondere auf die Indoktrinierung der »Jungärzte« übte Kurt Blome aus, Stellvertreter des »Reichsgesundheitsführers«, Stellvertretender Vorsitzender der Reichsärztekammer und SS-Brigadeführer. Als »alter Kämpfer« der Nazipartei betrieb Blome konsequent ihre Rassenpolitik, z.B. beim Entzug der Approbation für die jüdischen Ärzte. Zunächst engagiert in der Krebsforschung, förderte und betrieb er seit 1939/40 Menschenversuche an polnischen Tuberkulosekranken, an Patienten in Heil- und Pflegeanstalten, an KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen. Schwerpunkt war die Biowaffenforschung. Blome betrachtete Menschenversuche als Gewohnheitsrecht der Ärzte. Gabriele Moser von der Universität Heidelberg charakterisierte ihn als Beispiel ethischer Verrohung und Selbstmobilisierung, insbesondere vermittels der Kollaboration von Wissenschaft und Naziregime. Blome wurde in Nürnberg angeklagt, aber mangels Beweisen freigesprochen. Nach 1945 führte er ein ruhiges Leben in einem angesehenen Beruf, während seine Opfer, so sie denn überlebt hatten, lebenslang litten.
Dozent in Alt Rehse war auch der »Reichsgesundheitsführer« Leonardo Conti. 1920 am Kapp-Putsch beteiligt, 1923 SA-Mitglied, 1927 NSDAP, 1929 Mitbegründer des NS-Deutschen Ärztebundes. Als Reichsgesundheitsführer war Conti involviert in die Euthanasieaktion und in die Impfstofforschung. Berüchtigt: sein Geheimerlaß zur Zwangsabtreibung an Fremdarbeiterinnen. Einer Verurteilung in Nürnberg entzog er sich durch Selbstmord. Anja Peters, Doktorandin der Universität Greifswald, bemüht sich um seine Entmythologisierung durch die Analyse seiner Einbettung in eine Nazi-Familien-Biographie, als eines Mannes, der seine Nazikarriere zugleich mit seiner Mutter, seinem Bruder und seiner Schwägerin verfolgte. Peters‘ Charakterisierung Contis als eines Protagonisten der Naziideologie paßt jedoch nicht zur vermeintlichen Rolle des Muttersöhnchens der »Reichshebammenführerin« Nanna Conti, der zuliebe er ein Hebammengesetz lancierte, das die Hebammen zu Vollstreckerinnen des Erbgesundheitsgesetzes machte, indem sie gegen ein Salär von zwei Reichsmark kranke und behinderte Neugeborene oder »erbkranke« Erwachsene meldeten.
An der Mordmaschinerie beteiligt war auch der Naturheilmediziner und SS-Inspekteur Ernst Günther Schenk, über den Christoph Kopke, Potsdam, referierte. Auf seine Initiative hin wurde in Alt Rehse ein harmloser Heilkräutergarten angelegt, der das Modell der berüchtigten »Plantage« im KZ Dachau war, wo sich mehr als 100 Häftlinge zu Tode schuften mussten. Auch Schenk kam straflos davon.
Erstveröffentlichung in junge Welt vom 03.12.2009.