Meldete die Tagesschau am Sonntag gegen sieben Uhr noch ein knappes Ergebnis, war bereits wenig später klar: Die Griechen haben die Bedingungen der Euro-Gruppe für ein neues Hilfspaket mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Während die ’Nai-Fraktion,’ unterstützt von zahlreichen deutschen Politikern, sich aus dem derzeitigen Ausnahmezustand einen Vorteil erhoffte, ging es für viele Oxi-Stimmer um eine Gewissensfrage. Lasse ich mich abschrecken von dem Vorgeschmack einer weiteren Eskalation, der durch die Kapitalkontrolle derzeit das Leben in Griechenland bestimmt? Oder riskiere ich den Sprung ins kalte Wasser?
Mit dem Gesicht zum Abgrund
In der Tat hätte ein drittes Hilfspaket das Unvermeidbare nur noch weiter hinausgezögert. Griechenland ist bankrott. Und das nicht erst seit Tsipras an der Macht ist. Während Milliarden von europäischen Steuergeldern dafür verschwendet wurden, die Zahlungsfähigkeit des Landes vorzutäuschen, hat sich der Realzustand schleichend verschlechtert. So schleichend, dass sich viele Griechen an die Krise schlichtweg gewöhnt hatten. Das Lavieren am Abgrund war zum Alltag geworden.
Die letzten zehn Tage haben das griechische Volk dazu gezwungen, sich dem Abgrund zuzuwenden. Der wahre Zustand des Landes ist ans Tageslicht gekommen. Und der sieht nun mal so aus, dass die griechischen Banken nicht mehr genügend Bargeld haben. Es gibt keine 20-Euro-Scheine mehr, in schon wenigen Tagen wohl gar kein Bargeld mehr. Man beginnt Lebensmittel zu horten. Bankangestellte sind zwangsbeurlaubt. Import- und Exportgeschäfte sind nur noch über Konten im Ausland möglich. Und die Zukunft? Ungewiss. Niemand in Griechenland weiß, was die nächsten Tage bringen werden.
Griechen sind sich ihrer Verantwortung bewusst
Doch auf der anderen Seite war nichts schlimmer als die Stagnation. Wo auch immer die Sparpolitiker das Land auf einem guten Weg sahen, im Leben der Menschen wurde dies nicht ersichtlich. Dabei ist es nicht einmal die Sparpolitik an sich, die zu schaffen macht, sondern die Tatsache, dass es schlichtweg nichts mehr einzusparen gibt. „Ich würde gern meine Schulden zahlen,“ sagt die Besitzerin eines Kiosks direkt vor dem Syriza-Parteibüro in Thessaloniki. „Aber wovon? Ich nehme ja nichts ein.“ Auf meine Frage, wer denn an all dem Schlamassel Schuld die trage, antwortet sie: „Wir alle! Wir alle sind Schuld.“
Die Griechen sind wesentlich reflektierter, als es den meisten Menschen in den sogenannten Geberländern – allen voran Deutschland – bewusst ist. Der Großteil der Bevölkerung weiß sehr genau, dass nicht Frau Merkel, Herr Schäuble oder die Troika (allein) für die Lage des Landes verantwortlich sind. Das Verhältnis zwischen dem griechischen Volk und seinem Staat basiert auf tiefstem Misstrauen. Die vielen Jahre, in denen sich Politiker auf Kosten der Bürger die Taschen vollgestopft haben, prägen auch heute noch die Sicht auf die Parlamentarier. Die Griechen wissen um den chaotischen Zustand ihres Staates, und dass dieser die Hauptverantwortung für die Lage des Landes trägt.
Keine idealen Voraussetzungen für Tsipras
Mit Tsipras nun sollte all dies anders werden. Doch geht es vielen nicht schnell genug. Die junge Regierung kämpft vor allem mit zwei Dingen: der eigenen Unerfahrenheit und dem schlechten Zustand des Staates. Erschwerend hinzukommen die ständigen Auseinandersetzungen mit den Euro-Partnern. Hätte Tsipras bis dato mehr tun können? Ja. Hat er Fehler gemacht? Zweifelsohne. Aber hat die Euro-Gruppe es ihm überhaupt ermöglicht, einen neuen Kurs einzuschlagen? Nein. Das sicher nicht. All diese Faktoren trüben die große Euphorie, mit der Tsipras zu Beginn des Jahres ins Amt gewählt wurde.
Ich gehe in eine Apotheke auf der zentralen Ermou-Straße, die Thessalonikis berühmte Agia-Sofia-Kirche mit dem Aristoteles-Platz verbindet. Eine junge Frau, etwa Anfang zwanzig, tippt Zahlen in den Computer. Ein älterer Mann sitzt am Tisch. Im Gespräch erfahre ich, dass es sich um Vater und Tochter handelt. Er, 60 Jahre alt, ist glühender Anhänger der Syriza-Regierung. So ginge es nicht weiter mit dem Land, erzählt er. „Wir müssen einen neuen Weg einschlagen.“ Die Tochter auf der anderen Seite glaubt ihm nicht. Sie hat mit ’Ja’ abgestimmt. Sie hat Angst davor, dass sich Griechenland von Europa entfernt, dass die Situation eskaliert, dass die Drachme kommt.
Drohgebärden anstelle von Fakten
Drohungen in diese Richtung gibt es viele. Martin Schulz hatte noch vor der Abstimmung deutlich gemacht, dass ein ’Nein’ in Griechenland den Austritt aus der Währungsunion zur Folge hätte (das kann Griechenland technisch ja nur selbst entscheiden). Herr Schäuble hält es für denkbar. Und der Spiegel titelte bereits wenige Stunden nachdem das Abstimmungsergebnis bekannt wurde: „Frau Merkel muss jetzt den Grexit vorbereiten.“ Doch trotzdem haben sich die Griechen hinter ihren Ministerpräsidenten gestellt und sich nicht erpressen lassen. Immerhin hatte dieser die ärmsten Rentner mit Sozialleistungen unterstützt und hatte dafür gesorgt, dass der Erstwohnsitz eines Schuldners nicht von der Bank genommen werden darf. All dies sollte er als Bedingung für ein drittes ’Hilfspaket’ rückgängig machen.
Für die meisten Europäer ist die Situation vor allem eins: Undurchsichtig. Weder die Griechen verstehen, warum die Euro-Gruppe so verbissen an ihren Sparplänen festhält, noch verstehen Deutschen, warum ein Kurswechsel, inkl. dem von Merkel und Schäuble so kategorisch abgelehnten Schuldenschnitt die einzige Möglichkeit ist für Griechenland, aus der Krise auszubrechen. Ein 25-jähriger Athener, der in Münster BWL studiert, schreibt mir, dass er sich Kommentare anhören muss von ’Selber Schuld,’ über ’Ihr seid Schmarotzer’ bis hin zu ’Man sollte euch bombardieren.’
Griechen sind verhandlungsbereit
Dabei ist er, wie die meisten Griechen, für Europa. Er hätte ein ’Ja’ als „zutiefst antieuropäisch“ empfunden, als Verstoß „gegen die Grundprinzipien der EU bezüglich Humanismus und Wohlstand der Völker.“ Für ihn – wie für viele in Europa – ist Tsipras und das Oxi der Griechen der Hoffnungsschimmer für einen Kurswechsel in Brüssel und den Mitgliedsländern. Die hohe Staatsverschuldung lässt das Land als den großen Krisenversager dastehen. Viele aber fühlen sich entrechtet. „Wir sind die Geldgeber. Ihr seid die Schuldner. Wir sind keine Partner,“ bekommt der junge Grieche von seinen Münsteraner Kommilitonen zu hören.
Die Griechen sind verhandlungsbereit. Viele hier gehen arbeiten und werden kaum oder gar nicht bezahlt. Viele sind bereit weitere harte Maßahmen auf sich zu nehmen, wenn diese in die richtige Richtung führen. Das „Angebot“ der Euro-Gruppe konnte jedoch aus verständlichen Gründen nicht akzeptiert werden.
Das heißt jedoch nicht, dass Griechenland Geld will, nur um sich dann bequem zurückzulehnen – eine Meinung, die gerade in Deutschland sehr populär vertreten wird. Vielmehr hofft man darauf, dass Europa den Griechen nicht länger mit sogenannten Hilfskrediten am Rande des Abgrundes jede Bewegungsfreiheit nimmt. Nach den Oxi-Euphorien gestern ist heute wieder der harte Alltag eingekehrt. Es liegt jetzt an Europa zu zeigen, ob der Staatenbund das Papier wert ist, auf dem er begründet ist.
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Erstveröffentlichung im WELTEXPRESS am 07.07.2015.