Das Orvieto allerdings, das wir als Touristen so bewundern, ist im Mittelalter entstanden. Es hat sich bis heute seine Identität bewahrt. Der Grundriss ist der alte, die Gassen und winzigen Plätze sind geblieben, wie sie waren. Die Türme und Kirchen mit dem alles überragenden Dom erzählen ebenso von den untergegangenen Jahrhunderten wie die kleinen, grauen Häuser aus Tuffstein. Lediglich die zahlreichen Gärten, die in früheren Jahrhunderten die Bürger mit Obst und Gemüse während der Belagerungen versorgten, sind verschwunden. Sie mussten Garagen und Geschäften Platz machen.
Die Einwohner Orvietos zeichnen sich durch Lust am Essen und Trinken aus. In jeder Gasse der wohlgefügten Stadt gibt es mindestens zwei Weinläden. In den Feinkostgeschäften stapeln sich Berge von Lebensmitteln. Es gibt Schwarze Trüffel und Weiße Trüffel, Wurst, Salami und Schinken, ungezählte Nudelarten und die verschiedensten Sorten Olivenöl. Kalt gepresst! Das Beste vom Besten. Nicht wegzudenken aus der Küche Orvietos sind die handgemachten, groben Spagetti, die mit Knoblauchsoße serviert werden. Kenner rühmen die „Betrunkenen Hühner“, in Wein eingelegtes Federvieh, gebraten und gesotten.
Seit mehr als 2500 Jahren wird in der Region Wein angebaut. Es heißt, die Etrusker wären die ersten gewesen, die auf dem italienischen Festland den Anbau kultivierten. Sie zogen die Reben an Pappelbäumen, Ulmen und Ahorn hoch, noch heute kann man diese Anbaumethode ab und an bewundern. Berühmt ist der „Orvieto Classico“, ein charaktervoller Weißwein aus einem kleinen Anbaugebiet vor den Toren der Stadt. Aber auch der Rotwein wird geliebt. Gelagert werden viele dieser edlen Tropfen in der Unterwelt von Orvieto, in tiefen, kühlen Kellern, die schon vor Jahrhunderten in den Fels aus Tuffstein gegraben wurden. Diese Keller sind Fluch und Segen zugleich.
Orvietos Oberwelt steht auf einer ausgehöhlten Unterwelt aus etruskische n Gräbern, Grotten, Stollen, mittelalterlichen Tunneln, Brunnen und Abzugskanälen. Rund 1500 Hohlräume kennt man, die interessantesten von ihnen können besichtigt werden. So den San Patrizio-Brunnen. Dieses Tiefenbauwerk ist ein originelles Beispiel für die Wasserbautechnik und Architektur des 16. Jahrhunderts. Über zwei ineinander verschachtelte, sich nicht berührende Wendel-treppen, die für Mensch und Maulesel bestimmt waren, konnte man gefahrlos bis in eine Tiefe von 62 m hinabsteigen. Und kam jederzeit an Wasser. Ein Segen bei einer Belagerung. Fand auch Papst Clemens VII., der 1527 nach Orvieto floh, um sich vor den spanischen Truppen zu verstecken.
Heute allerdings ist die Freude an der Unterwelt getrübt. So wie es unklug ist, den Ast abzusägen, auf dem man sitzt, so rächt sich, dass man den Tuffsteinfels einst löcherte, um Material für den Bau der Stadt zu gewinnen. In regelmäßigen Abständen gibt heute das Gestein nach, rutscht ein Stück Fels ab. Der berühmte Dom Santa Maria, für den 1290 der Grundstein gelegt wurde, steht nur noch 300 Meter vom Rand des Felsen entfernt. Nun ist guter Rat teuer. Mit Akribie und die Bürger mit allerlei Gemüse während der Belagerungen Nachdruck wird seit 1990 die Unterwelt dokumentiert, verfüllt und gesichert.
Auch der berühmteste Wasserfall Umbriens, der Cascata delle Marmore bei Terni, gut 60 km von Orvieto entfernt, ist ein Werk der Menschen. Die Römer hatten einst dieses faszinierende Naturschauspiel geschaffen. Dentato, der Konsul Roms, ließ 271 v. Chr. einen Kanal bis an den Rand der Marmore-Klippe graben, um die versumpfte Ebene von Rieti trockenzulegen. Seither stürzen sich 185 m ³ Wasser pro Sekunde 165 m in die Tiefe und zerschmettern alles, was ihnen in die Quere kommt. „Furchtbar schön“, rief der Dichter Lord Byron (1788-1824) angesichts der Naturgewalten. Seit jener Zeit gehörte die Cascata zu den großen Touristen-Attraktionen Umbriens. Und Rom-Reisende nahmen gern den Umweg in Kauf. Sie tun es heute noch.