Für zwei Millionen Arbeiter und Angestellte zu kämpfen, verlangt Verantwortungsgefühl und taktisches Können. Aber es geht nicht nur um die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, sondern da hängen zum Beispiel auch die Orchestermusiker dran. Sie sind Angestellte des Staates oder der Kommunen, oder sie könnten es sein. Sie haben ihren eigenen Flächentarif, den Tarifvertrag für Konzertorchester (TVK). Der enthält eine wichtige Klausel: im gleichen Maße, wie die Tarife im Öffentlichen Dienst erhöht werden, steigen auch die Gehälter der Orchestermusiker. Das ist ein Pfund, aber auch ein Problem. Es gibt einen Mechanismus, aber keinen Automatismus. Dazu braucht es eine Gewerkschaft – für die Orchestermusiker die Deutsche Orchestervereinigung (DOV).
Wie aber setzt die DOV ihre gewerkschaftliche Macht ein? Ist sie überhaupt eine gewerkschaftliche Macht, wenn sie sich nach Auffassung ihres Geschäftsführers Gerald Mertens mehr als Berufsorganisation denn als Gewerkschaft versteht? Immerhin verhandelt sie den Tarifvertrag, unterschreibt ihn und streitet vor den Arbeitsgerichten für seine Erfüllung. Und warum die Berufsorganisation weniger um die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der Musiker kämpfen müsse als die Gewerkschaft (in Union), leuchtet nicht ein. Gerade das ist einer der drei Leitsätze der DOV.
Und was die Rolle als Gewerkschaft betrifft: was wird getan für offene Probleme wie die Vereinheitlichung der Orchestertarife, gegen deren Aufweichung durch Haustarifverträge, gegen das Herauslösen einzelner Bestandteile, gegen den erzwungenen Verzicht ganzer Belegschaften auf (restlich vorhandene) Tarifbestandteile wie Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld und auf die fällige Tariferhöhung überhaupt? Findige Strategen entwickeln bereits prophylaktische Methoden des Lohnraubs. Zum Beispiel will die Wissenschaftsministerin von Brandenburg, Sabine Kunst (SPD), den Oberbürgermeistern der Städte Frankfurt/Oder, Potsdam und Brandenburg/Havel verbieten, nach dem Auslaufen der Haustarifverträge 2013/2014 über Anschlussverträge zu verhandeln. Zuerst will sie »Strukturentscheidungen« treffen. Das kann weiteren Stellenabbau oder Fusion bedeuten. In ganz Brandenburg gibt es zur Zeit vier Orchester mit 271 Mitgliedern. Häufig sind die bedrohten Musiker bereit, auf Tariferhöhungen zu verzichten. Das 13. Monatsgehalt haben die meisten schon lange preisgegeben. Die Kluft zwischen Flächentarif und Haustarif wird immer größer. Natürlich protestiert die DOV, aber welche Kräfte kann sie mobilisieren?
Wie steht es zum Beispiel um die gewerkschaftliche Solidarität, insbesondere der Belegschaften der »Dinosaurier« in München, Hamburg und Berlin? Wo bleibt der Massenstreik der Orchester, wenn der Deutsche Bühnenverein (DBV) als Arbeitgeberverband nicht bereit ist, die Anpassung der Orchestergehälter an die Tariferhöhungen im Öffentlichen Dienst 1:1 umzusetzen? Wie machen zum Beispiel die Staatskapelle Berlin, die Münchner Philharmoniker und die Berliner Philharmoniker mit, die selbst Sondertarife haben? Ihre Organisation ist die DOV. Die unterschiedliche Laufzeit der Tarifverträge erschwert Solidaritätsstreiks, weil die einen Friedenspflicht haben, während die anderen im Arbeitskampf stehen. Es liegt bei der DOV durchzusetzen, dass die Tariferhöhungen in den bevorstehenden Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst umgehend bei den Orchestermusikern ankommen. Dazu helfen unmittelbare Aktionen besser als jahrelange Klagen vor Gericht. Die Tribüne für die öffentliche Verfechtung ihrer Lohnpolitik könnte die Deutsche Orchesterkonferenz am 22. Mai in Hannover sein. Das Thema »Innovations- und Optimierungspotentiale im Theater- und Orchesterbetrieb« läuft auf das Gegenteil hinaus. Optimierung ist genau das, womit die Sparkommissare in Kommunen und Rundfunkanstalten ihre Streichorgien tarnen. Arbeitsplatzabbau und Lohndrückerei sind zwei Seiten der Medaille. Statt Unternehmensberatern könnte die DOV lieber Ärzte, Lokführer und Fluglotsen zum Erfahrungsaustausch einladen. Zur Zeit werden die Spartengewerkschaften von allen Seiten bedroht, sogar von SPD- und Gewerkschaftsfunktionären. Ein Grund mehr, ihre Kräfte zu sammeln.
Einen Schwachpunkt hat der TVK selbst. Denn in Paragraph 19 heißt es, den Orchestertarif an die Steigerung der Tarife des Öffentlichen Dienstes »sinngemäß« anzupassen. Das legt der Arbeitgeberverband so aus, dass Abweichungen möglich sind, zum Beispiel, wie der Direktor Rolf Bolwin erklärt, eine Tariferhöhung »zeitlich zu strecken«, das heißt hinauszuschieben. Oder der DBV erfindet eine Tabelle, die nivellieren soll, was von den Tarifparteien für Länder und Kommunen unterschiedlich vereinbart wurde. Dann hätten die Angestellten im Theater eine andere Gehaltserhöhung als die Musiker – ein schöner Zahlensalat. Das ist der Fluch des Kompromisses. Den hat die DOV unterschrieben, nun aber geht sie vor die Arbeitsgerichte, um die Auslegung in ihrem Interesse verordnen zu lassen. Ausgang unbestimmt, denn in den ersten beiden Instanzen hat sie verloren. Die Folge der ungeklärten Situation ist die Zurückhaltung der 2011 fälligen Gehaltserhöhung in den meisten Orchestern, womit letzten Endes auch den Orchesterleitungen nicht gedient ist, weil offene Stellen nicht zum ungeschmälerten tariflichen Gehalt angeboten werden können. Mertens meint, im Ernstfalle müssten sich die Orchester jedes Jahr den Vergütungstarifvertrag erstreiken. Wohlan, die Lokführer zum Beispiel haben gezeigt, wie man eine Infrastruktur lahmlegt. Und auch die Forderung nach einem Tarifvertrag für Musikschullehrer wäre Zeichen gewerkschaftlicher Solidarität.
Aus den Orchestern ist zu hören, dass Musiker aus Enttäuschung bereits aus der DOV ausgetreten sind. Die Gewerkschaft zu verlassen, ist gewiss nicht der richtige Weg, doch der DOV und ihren Funktionären sollte es zu denken geben, wenn Arbeitnehmer ihre Interessen durch sie nicht mehr vertreten finden. Umgekehrt lehrt die Erfahrung, dass dort, wo Gewerkschaften längst noch nicht erfolgreich waren, aber energisch kämpfen, die Beschäftigten in die Gewerkschaft eintreten, wie jüngst in der Charité und in ihrem ausgegliederten Betrieb CFM.