Obama? Oh weh !

Ich ging an der Seepromenade entlang und hatte auf einmal den Wunsch, an den Strand hinunter zu gehen. Ich setzte mich auf einen Stuhl im Sand, trank eine Tasse Kaffee und rauchte eine arabische Wasserpfeife, den einzigen Rauch, den ich mir noch ab und zu gönne. Ein Strahl der milden Wintersonne malte eine goldene Spur auf dem Wasser, und ein einsamer Surfer glitt über den weißen Schaum der Wellen.

Der Strand war fast leer. Ein Fremder winkte mir von weitem. Ein paar Jugendliche aus dem Ausland fragten mich, ob sie mal an meiner Pfeife ziehen dürften. Von Zeit zu Zeit wanderte mein Blick zum entfernten Jaffa, das aus dem Meer ragt – es ist ein wunderbarer Anblick.

Einen Augenblick lang war ich in einer Welt, die in Ordnung war, weit entfernt von den deprimierenden Nachrichten, die in der Morgenzeitung bestimmend waren. Und dann erinnerte ich mich, dass ich dies schon einmal vor vielen, vielen Jahren so empfunden hatte.

Es war vor 68 Jahren genau an derselben Stelle. Es war auch ein angenehmer Wintertag, vor mir eine stürmische See. Ich war nach einem ernsten Typhusanfall auf Krankenurlaub, lag hier auf einem Liegestuhl und ließ mich von einer milden Wintersonne wärmen. Ich fühlte, dass nach der schweren Krankheit, die mich sehr mitgenommen hatte, meine Kräfte wieder zurückkamen. Ich vergaß den weit entfernten Weltkrieg. Ich war 18 Jahre alt, und die Welt war in Ordnung.

Ich erinnere mich noch an das Buch, das ich damals las: Oswald Spengler, „Der Untergang des Abendlandes“, ein kolossales Werk, das ein völlig neues Bild der Weltgeschichte malte. Statt der damals akzeptierten Landschaft, in der eine grade Linie des Fortschritts aus der Antike ins Mittelalter und von dort in die Moderne führt, malte Spengler eine Landschaft mit Bergketten, in der eine Zivilisation der anderen folgte; jede wurde geboren, wuchs, wurde alt und starb, etwa wie ein menschliches Wesen.

Ich saß und las und erlebte, wie mein Horizont sich erweiterte. Immer wieder legte ich den Band beiseite, um neue Erkenntnisse zu verarbeiten. Auch damals sah ich nach Jaffa hinüber – zu jener Zeit noch eine arabische Stadt.

Spengler behauptete, dass jede Zivilisation etwa eintausend Jahre lebe, dann am Ende ein Weltreich gründe und dass danach eine neue Zivilisation ihren Platz einnehme. Seiner Ansicht nach  war die westliche Zivilisation dabei, ein deutsches Weltreich zu gründen, (Spengler war natürlich ein Deutscher), und die kommende Zivilisation eine russische sei. Er hatte Recht, und er hatte Unrecht. Ein Weltreich war im Begriff zu entstehen, aber es war amerikanisch, und die nächste Zivilisation wird wahrscheinlich eine chinesische sein.

Unterdessen aber regiert Amerika die Welt, und das führt uns natürlich zu Barack Obama.

Ich hörte seiner Rede zu, die er beim Empfang des Friedensnobelpreises hielt. Mein erster Eindruck war, dass sie fast unverschämt war: zu einer Friedensfeier zu kommen und dort einen Krieg zu rechtfertigen. Aber als ich sie ein zweites und dann noch drittes Mal las, fand ich einige unleugbare Wahrheiten. Auch ich bin davon überzeugt, dass es Grenzen der Gewaltlosigkeit gibt. Gewaltlosigkeit hätte Hitler nicht gestoppt. Die Schwierigkeit ist, dass diese Einsicht sehr oft als Vorwand für Aggressionen dient. Jeder, der einen stupiden Krieg beginnt – einen Krieg, der das Problem, weswegen er begonnen wurde, nicht lösen kann, – oder einen Krieg mit schändlichem Ziel, gibt vor, es gäbe keine Alternative.

Obama versucht, dem afghanischen Krieg das „Keine-Alternative“-Abzeichen anzuheften – dabei handelt es sich um einen derartig grausamen, überflüssigen und dummen Krieg, wie kaum je zuvor – unseren eigenen drei letzten militärischen Abenteuern ähnlich.

Obamas Beobachtungen verdienen eine Überlegung. Sie müssen und sollten debattiert werden. Aber es war merkwürdig, sie bei der Gelegenheit einer Friedenspreisverleihung zu hören. Es wäre passender gewesen, sie in West Point, der militärischen Akademie, zu hören, wo er eine Woche zuvor gesprochen hatte.

(Ein deutscher Humorist erwähnte, dass Alfred Nobel, der den Preis eingeführt hatte, den Dynamit erfunden habe. „Das ist die richtige Reihenfolge“, sagte er , „Zuerst sprengt man alles in die Luft, und dann macht man Frieden.“)

Ich hätte erwartet, dass Obama seine Rede dazu nützen würde, eine wirklich weltweite Vision auszubreiten anstelle von traurigen Reflexionen über die menschliche Natur und die Unvermeidbarkeit von Kriegen. Als Präsident der USA hätte er bei solch einem festlichen Anlass, bei der die Menschheit zuhört, die Notwendigkeit einer neuen Weltordnung betonen sollen, die im Laufe des 21.Jahrhunderts entstehen müsse.

Die Schweinegrippe ist ein Beispiel, wie ein fatales Phänomen sich innerhalb von Tagen über den ganzen Globus ausbreiten kann; Eisberge, die am Nordpol schmelzen, lassen Inseln im Indischen Ozean verschwinden; der Crash auf dem Wohnungsmarkt in Chicago lässt Hunderttausende von Kindern in Afrika vor Hunger sterben; die Zeilen, die ich in diesem Moment schreibe, werden in den nächsten Minuten Honolulu und Japan erreichen.

Der Planet ist eine einzige Entität geworden – vom politischen, wirtschaftlichen, militärischen, ökologischen, kommunikativen wie medizinischen Standpunkt aus. Ein politischer Führer, der gleichzeitig ein Philosoph ist, sollte Wege für eine verbindliche Weltordnung aufzeigen, eine Ordnung, die Kriege als Problemlöser in die Vergangenheit verbannt, tyrannische Regime in jedem Land verhindert und den Weg in eine Welt ohne Hunger und Epidemien vorbereitet. Nicht morgen und sicher auch nicht in unserer Generation, aber als ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt.

Obama denkt sicher darüber nach. Aber er vertritt leider ein Land, das so viele Aspekte einer verbindlichen Weltordnung blockiert. Für eine Weltmacht ist es normal, gegen eine Weltordnung zu sein, die ihre Macht einschränkt und sie an Weltinstitutionen weitergibt. Deshalb sind die USA gegen den Internationalen Gerichtshof, die weltweiten Bemühungen, den Planeten zu retten, und die Abschaffung aller Atomwaffen. Deshalb sind sie gegen eine reale Weltregierung anstelle der UN, die fast ein Instrument der US-Politik geworden ist. Deshalb lobt Obama die NATO, einen militärischen Arm der USA, und verhindert eine aufkommende, wirklich effektive internationale Militärkraft.

Die norwegische Entscheidung, Obama mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen, grenzt ans Lächerliche. In seiner Oslo-Rede bemüht sich Obama nicht einmal post factum eine plausible Rechtfertigung für diese Entscheidung zu geben. Schließlich ist dieser Preis nicht für Philosophen, sondern für Aktivisten gedacht. Nicht für Worte, sondern für Taten.

Als er zum Präsidenten gewählt wurde, rechneten wir mit einigen Enttäuschungen. Wir wussten, dass kein Politiker wirklich so perfekt wie Obama, der Kandidat, aussehen und reden konnte. Aber die Enttäuschung ist viel größer und viel schmerzlicher, als wir erwarteten.

Es betrifft praktisch alle Gebiete. Den Irak hat er noch nicht verlassen, schon steckt er mit beiden Beinen tief im afghanischen Sumpf – ein Krieg, der länger und noch stupider zu werden droht als der Vietnamkrieg. Jeder, der nach einem Sinn in diesem Krieg sucht, wird dies vergeblich tun. Er kann nicht gewonnen werden. Tatsächlich ist nicht klar, wie ein Sieg in diesem Kontext aussehen soll. Er wird gegen den falschen Feind geführt , gegen das afghanische Volk, anstelle gegen die El Qaida-Organisation. Es sieht so aus, als würde man ein Haus verbrennen, um die Mäuse darin loszuwerden.

Er versprach, das Guantanamo-Gefängnis und andere Folterlager zu schließen – sie führen alle ihr Geschäft weiter.

Er versprach, den Massen von Arbeitslosen in seinem Land zu helfen, aber schüttet das Geld weiter in die Taschen der Topmanager, die wie immer unersättliche Raubtiere sind.

Sein Anteil an der Lösung der Klimakrise ist hauptsächlich verbal, wie sein Engagement in Bezug auf die Zerstörung der Massenvernichtungswaffen.

Die Rhetorik hat sich zwar verändert. Die salbungsvolle Arroganz der Bush-Zeit ist ersetzt worden durch einen versöhnlicheren Stil, und es sieht so aus, als suche er nach einem fairen Abkommen. Dies sollte anerkannt werden – aber nicht zu sehr.

Als Israeli bin ich natürlich an seiner Einstellung zu unserm Konflikt interessiert. Als er gewählt wurde, hat er große, ja, übertriebene Hoffnungen geweckt. Der Haaretz-Kolumnist Aluf Ben hat es in dieser Woche so ausgedrückt: „Er wurde für eine Kreuzung zwischen dem Propheten Jesaja, Mutter Theresa und Uri Avnery gehalten.“ Ich fühle mich geschmeichelt, mich in solch erhabener Gesellschaft wieder zu finden, aber ich muss ihm zustimmen: die Enttäuschung ist so groß wie die Hoffnungen.

In der langen Oslo-Rede widmete Obama uns ganze 16 Wörter: „Wir sehen im Nahen Osten, wie sich der Konflikt zwischen Arabern und Juden zu verschärfen scheint.“

Nun, zunächst einmal ist es kein Konflikt zwischen Arabern und Juden. Es ist ein Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis. Das ist ein großer Unterschied, und wenn man ein Problem lösen will, muss man zunächst ein klares Bild davon haben und in seinen Definitionen genau sein.

Und was noch wichtiger ist: dies ist die Bemerkung eines Zuschauers; eines, der in seinem Sessel sitzt und fernsieht; eines Theaterkritikers, der eine Vorstellung ansieht. Sollte ein Präsident der USA den Konflikt wirklich in dieser Weise betrachten?

Wenn sich der Konflikt tatsächlich verschärft, dann müssen auch die USA und Obama persönlich angeklagt werden. Sein Einknicken beim Siedlungsproblem und sein totales Nachgeben gegenüber der Pro-Israel-Lobby in den USA hat unsere Regierung ermutigt, zu glauben, sie könne alles tun, was sie will.

Anfangs war Binyamin Netanyahu über den neuen Präsidenten beunruhigt. Aber die Furcht hat sich aufgelöst, und jetzt behandelt er Obama und dessen Leute mit Herablassung, die an Verachtung grenzt. Die mit der letzten Regierung gemachten Abkommen werden ganz offen gebrochen. Präsident George Bush erkannte die „Siedlungsblocks“ an für den Gegenzug, alle anderen Siedlungen auf Dauer einzufrieren und die ab März 2001 errichteten Außenposten aufzulösen. Doch es wurde nicht nur kein einziger Außenposten abgebaut, in dieser Woche hat die Regierung Dutzenden von Siedlungen außerhalb der Blocks, einschließlich der schlimmsten Kahane-Nester den Status von „bevorzugten Gebieten“ gewährt. Aus einem von diesen haben Schlägertypen in dieser Woche einen Brandanschlag auf eine Moschee verübt.

Das „Einfrieren“ ist ein Witz. In diesem absurden Theater übernehmen die Siedler die Rolle in einer Vorstellung gewalttätiger Opposition, die von der Regierung eingeladen und bezahlt wird. Die Polizei verwendet gegen sie kein Pfeffergas, Tränengas, Gummigeschosse und Gummiknüppel, wie sie es jede Woche gegen israelische und palästinensische Demonstranten tut, die gegen die Besatzung protestieren. Sie führen auch keine nächtlichen Aktionen in den Siedlungen durch, um Aktivisten zu verhaften – wie sie es jetzt in Bilin und anderen palästinensischen Dörfern tut.

In Jerusalem ist die Siedlungsaktivität natürlich in vollem Schwung. Palästinensische Familien werden – während die Siedler jubeln – aus ihren Häusern geworfen. Und die wenigen israelischen Demonstranten, die gegen die Ungerechtigkeit protestieren, werden in Krankenhäuser und Gefängnisse geschickt. Die mit diesen Aktivitäten befassten Siedlergruppen erhalten aus den USA Geld-Geschenke, die von den Steuern abgezogen werden können – auf diese Weise zahlt Obama indirekt genau für die Handlungen, die er verurteilt.

Während einer Stunde der Entspannung in milder Wintersonne am Strand gelang es mir, die deprimierende Situation bei Seite zu schieben. Bevor ich nach einem Spaziergang von zehn Minuten mein Zuhause erreichte, kam alles zurück und landete mit voller Wucht wieder auf mir. Für Liegestühle ist jetzt fürwahr keine Zeit. Vor uns liegt noch ein Kampf, und um ihn zu gewinnen, müssen wir all unsere Kräfte mobilisieren.

Und Obama? O weh !

* * *

Anmerkung:

Vorstehender Beitrag von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs und Christoph Glanz übersetzt. Dieser Artikel wurde am 19.12.2009 zuerst unter www.uri-avnery.de veröffentlicht. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Alle Rechte beim Autor.

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