Wenn eine solche Aussage innerhalb der ersten 20 Seiten eines Romans getroffen wird, horcht der Leser auf. Klappt das Buch zu. Was ist hier los? Treibt den Autor Misanthropie oder allgemeiner Überdruss um? Das schmale Hardcoverbändchen der bewährten Sonar-Reihe aus dem Hause Voland & Quist zeigt auf dem Cover eine seltsam verrenkte männliche Gestalt, deren Kopf sich in einem Vogelschwarm auflösen scheint. Wie eine Drohung schweben die leicht transparenten Buchstaben des Titels über dem fehlenden Kopf und inmitten der Krähenvögel – Die Ankunft.
Schaudernd nähern wir uns wiederum dem Inhalt des unheilverkündenden Buches. Der Autor, erfahren wir, wuchs in einer montenegrinisch-griechischen Familie in Sarajevo auf und lebt heute in Montenegro. Haben wir es letztlich mit inter-nationaler Ironie zu tun? Weiter auf Seite 22:
„In der Stadt lässt sich die Primitivität eines Menschen genau messen, nämlich an seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber den Bedürfnissen seiner Mitmenschen, an der Stärke seiner Überzeugung, der Einzige auf der Welt zu sein, das Recht zu haben, überall zu tun, was er gerade will, egal, welche Schwierigkeiten er anderen damit bereitet.“
Wunderbar ausgedrückt! Das trifft auch auf bestimmte Straßenzüge in Berlin Mitte oder Neukölln zu, denn der Ich-erzählende Privat-Detektiv steckt just in einer montenigrinischen Kleinstadt im Stau. Weil ein primitiver Mitbürger sich etwas zu Essen bestellt hat und im Auto darauf wartet – egal, was die Schlange sich stauender Autos hinter ihm davon hält. Unser Detektiv kommt ins Grübeln und wird ziemlich zornig. Während des Wartens beschleichen ihn mancherlei Assoziationen bis hin zu Todesgedanken – und plötzlich schneit es. Schnee rieselt auf Ulcinij. Mitten im Juni.
Kaum hat es angefangen zu schneien, mischt sich ein E-Mail schreibender Sohn ins Geschehen, der von seiner Kindheit und gemeinsamen Erlebnissen berichtet, die es so nie gegeben haben kann. Der Detektiv wusste bis eben nichts von einem Kind. Später wird der Sohn von Prophezeiungen und Propheten berichten, geheimnisvollen Büchern und dem wiederkehrend angekündigten Weltuntergang. Typografisch von den Berichten des Detektivs abgesetzt, verschränken sich diese Vater- und Sohnkapitel, die nur scheinbar wenig miteinander zu tun haben. Der Detektiv berichtet weiterhin lakonisch-sachlich, wie die zu Tode gestürzte Kuh des Nachbarn die Straße versperrt und vor Ort geschlachtet werden muss und wie nebenbei die Welt aus den Fugen gerät. Ein Tsunami bricht über Holland einher, Mitglieder einer russischen Endzeitsekte werden von Soldaten erschossen und in Gazprom-Gruben geworfen, nachdem sie sich geweigert hatten, das Firmengelände zu verlassen. Soweit, so glaubhaft, möchte der Leser murmeln, stolpert aber im Kurzzeitgedächtnis noch einmal über bereits ausgesprochene Warnung Nikolaidis‘:
„Wer nicht primitiv ist, ist ein Fremdkörper und bekommt dies täglich am eigenen Leib zu spüren.“
Bevor wir uns dem nun bitterböse Fahrt aufnehmenden Verlauf der weiteren Geschehnisse zuwenden, sei dringend auf die tracklist zum Buch verwiesen! (S.142) Vielleicht könnte man zum folgenden blutrünstigen Geständnis des Fleischers „Meat is Murder“ der Smiths einlegen, oder „God Save The Queen“ einfach in Dauerschleife laufen lassen. Das Meer erhebt sich, Manhattan ist schon abgesoffen, am Rande der Geschichte bilden sich Flüchtlingsströme und der Autor unkt:
„Die Optimisten waren wie immer die Dummen: sie meinten, es würde schon nicht schlimm kommen und mussten am Ende mit Hubschraubern von ihren Dächern evakuiert werden.“
Emmanuel, wie übrigens der geheimnisvolle, in einer Anstalt einsitzende Sohn heißt, schreibt indes vom Intellekt-feindlichen Revoluzzer Thomas Müntzer und einem seltsamen Juden namens Zvi, der sich vor gut dreihundert Jahren freiwillig nach Ulcinij in die schwarzen Berge verbannen ließ. Wo er angeblich ein Werk mit dem Titel „Buch der Ankunft“ verfasste und versteckte. Welches jedoch erst gelesen werden könne, wenn Zvi wieder auferstehe und die Wahrheit bringe. Bis dahin hinterlasse er der Welt ein falsches Buch, „Die Feier der Rückkehr“. Ein weiterer nach Ulcinij verbannter religiös Eifernder hatte bereits Jahrhunderte vor Zvi von seiner Auferstehung gekündet und die Niederschrift dieser Prophezeiungen taucht nun neben Zvis Büchern im Roman = Ulcinij auf. Menschen werden gemeuchelt, eine Bibliothek brennt und alle erwarten das Ende der Welt. Heute Abend. Ziemlich üble Aussichten für ein Happyend.
Der Autor, erstmals (gefühlvoll und nuancenreich von Margit Jugo) ins Deutsche übertragen – ist in der Jugosphäre für seine schonungslosen Anti-Kriegs-Reportagen und sein Eintreten gegen Nationalismus und für Menschenrechte bekannt. Der 1974 geborene Andrej Nikolaidis veröffentlichte bereits mehrere Romane und ist neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit als Kolumnist und Referent des Parlamentssprechers Montenegros tätig. Dem Voland & Quist Verlag sei für die Entdeckung eines großen Sarkasten gedankt, der mit religiösem Fanatismus hadert, indem er mit Versatzstücken abendländischer Kriminal-Kultur und Philosophie spielt.
Grandios, bitte alle Romane und Erzählungen Nikolaidis‘ sofort übersetzen und herausgeben!
Das Ende wird natürlich nicht verraten, aber hören Sie sich mal „O Come, O Come Emmanuel“ von Belle & Sebastian an, welches der Autor als letztes Lied seines Soundtracks empfiehlt…
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Andrej Nikolaidis, Die Ankunft, Roman, Aus dem Bosnischen von Margit Jugo, Sonar 13, 144 S., Voland & Quist, März 2014, ISBN: 978-3-863910-66-2, 16,90 €