Die DOV tröstet sich damit, dass im Jahre 2015 kein Orchester wegfiel und »nur« 9 Planstellen. Aber die Ruhe trügt. 2016 werden die SWR-Orchester Baden-Baden/Freiburg und Stuttgart fusioniert. 80 Stellen fallen weg. Und es kommt noch schlimmer. Durch die »Theaterreform« des Thüringischen Kulturministers Benjamin-Immanuel Hoff (Die Linke) sollen die Orchester von Eisenach und Gotha sowie die Jenaer Philharmonie und das Philharmonische Orchester Altenburg/Gera fusioniert werden. Das würde etwa 28 Stellen kosten. Sogar die Staatskapelle Weimar und das Orchester des Theaters Erfurt sollen fusioniert oder umfunktioniert werden. Nach Übersicht der DOV sind insgesamt 70 Stellen gefährdet. Widerstand hat bisher wenig genützt. Was sich bei Hoff Kooperation nennt, führt zu Einschnitten im Repertoire und in der Qualität. Unter den CDU-geführten Regierungen sind in den letzten 25 Jahren bereits zehn Orchester fusioniert und drei ganz aufgelöst worden. Von 1067 Planstellen sind 469 weggefallen. Das ist die Stärke von fünf großen Orchestern. Um ihre Arbeitsplätze zu retten, verzichten die Musiker der meisten Orchester auf bis zu 33 Prozent des Tariflohns.
In Mecklenburg-Vorpommern »arbeitet« der Kulturminister Mathias Brodkorb an einem »Staatstheater Nordost«. Die Neubrandenburger Philharmonie und das Philharmonische Orchester Vorpommern sollen fusioniert werden. Beide Orchester sind bereits Produkte der Fusion von Neubrandenburg und Neustrelitz beziehungsweise der Orchester Greifswald und Stralsund. Das Staatstheater Schwerin und mit ihm die Staatskapelle sind ständig von Insolvenz bedroht, weil die Landesregierung keine stabile Finanzierung sichert. Dem Volkstheater Rostock droht eine Schrumpfung.
In Sachsen ist das Orchester des Theaters Radebeul bereits in der Elbphilharmonie Riesa/Pirna aufgegangen. Das Kulturraumgesetz des Freistaats gewährleistet nicht die existenzsichernde Finanzierung der Orchester, insbesondere der Sächsischen Bläserphilharmonie, des einzigen nichtmilitärischen Blasorchesters Deutschlands, und des Leipziger Symphonieorchesters. Die Musiker verzichten schon »freiwillig« auf 30 Prozent des Tariflohns, um überhaupt bestehen zu können.
Es ist wie ein Witz vom Sender Jerewan: Der Kulturkonvent Sachsen-Anhalts empfahl eine Erhöhung des Etats für Orchester und Theater um 3 Millionen Euro, aber die Landesregierung strich 3 Millionen. Der Staatskapelle Halle droht 2017 eine Verkleinerung von 140 auf 99 Stellen. In Brandenburg will zwar die Landesregierung ihren Anteil an der Finanzierung ihrer vier Orchester auf 50 Prozent erhöhen, aber die geplante Kreisgebietsreform birgt neue Risiken für die Orchester in Brandenburg und Frankfurt/Oder, wenn die kreisfreien Städte diesen Status verlieren und nicht mehr die Verantwortung für die Orchester haben. Nach den bisherigen Erfahrungen bringen die bevorstehenden Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Berlin (für das Abgeordnetenhaus) eher neue Risiken statt mehr Stabilität.
Das Orchestersterben und der Planstellenabbau sind das Abbild der permanenten, aber erkennbar gewollten Unterfinanzierung der Länder und Kommunen. Folge sind Lohnraub (oft verbrämt als freiwilliger Lohnverzicht) und untertarifliche Bezahlung der Orchestermusiker. Von 131 Orchestern haben 42 – davon 31 in den neuen Bundesländern und Berlin – Haustarifverträge, deren Lohnniveau unter dem des Flächentarifvertrags liegt. In Thüringen haben 7 von 10 Orchestern einen Haustarifvertrag, in Mecklenburg-Vorpommern alle vier, in Sachsen 11 von 15, in Sachsen-Anhalt 4 von 5 und in Brandenburg 3 von 4. In Sachsen wären mindestens 12 Millionen Euro jährlich nötig, um die Tarife zum Flächentarif aufzustocken. Für das Bundesgebiet, schätzt die DOV, würden 32 Millionen Euro zum Ausgleich gebraucht. Der hart erkämpfte Flächentarif TVK wird bei einem Drittel der Orchester unterschritten. Dabei gibt es eine Dunkelziffer bei den nicht öffentlich finanzierten Orchestern, zum Beispiel die Berliner Symphoniker, die Roma und Sinti Philharmoniker und andere. Diese sind nicht dem Flächentarif angeschlossen und können ihre Musiker zum Teil nicht tariflich bezahlen. Die Musiker etlicher »freier« Orchester arbeiten freiberuflich und müssen mit Hungerlöhnen auskommen. Welche Mittel gebraucht würden, um diese Orchester gleichzubehandeln und öffentlich zu fördern, weiß niemand.
Gefragt, wie die DOV ihre gewerkschaftliche Macht einsetzt, um den Stellenabbau zu stoppen und eine rechtmäßige Entlohnung zu erzwingen, zum Beispiel durch einen Streik alle zehn Thüringer Orchester, erklärt der Geschäftsführer Gerald Mertens: »Streik geht nur im Tarifkonflikt. Wir haben Friedenspflicht. Es sind ja nur zwei bis drei Standorte betroffen. Es ist schwierig, alle auf die Barrikaden zu bringen. Das kriegt man nicht auf der Straße hin, sondern nur in Lobbyarbeit.«
Das Mittel des politischen Streiks wird in der bundesdeutschen Gewerkschaftsbewegung noch nicht einmal erwogen. Anstöße gibt es genug, zum Beispiel von Oskar Lafontaine. Die von der DOV beklagten Zustände sind eben Folge der »Lobbyarbeit«, der Anpassung und des häufigen Verzichts auf Kampfmaßnahmen wie Flächenstreiks. Der gerühmte Organisationsgrad von 97 Prozent ist ein Papiertiger, wenn er nicht im Konflikt eingesetzt wird. Die DOV hat 2013 beim Vergütungstarifvertrag eine Niederlage erlitten, durch die den Musikern 19 Millionen Euro verloren gingen. Sie scheint nicht in der Lage zu sein, aus ihren Fehlern zu lernen. Der Ausweg kann nur die Mobilisierung der Mitglieder sein. Oder die Musiker brauchen eine andere Gewerkschaft.