Erzählt wird „Einsamkeit und…“ in einzelnen Episoden, die meist eine oder zwei der Figuren als Protagonisten haben. Durch detaillierte, überprüfbare Ortsangaben entsteht ein realistisches Umfeld, welches konterkariert wird durch die irreal absurden Situationen, denen die Figuren ausgesetzt sind. Für die Figuren sind Misserfolg und darauf folgend Scham bestimmender denn die titelgebenden Substantive. Denn dies ist ihnen gemeinsam: Sie alle leben in einer Art fortwährendem Misserfolg. Misserfolg als gesellschaftliche Permanenz. Einsamkeit und Sex sind nachrangig anzutreffen. Mitleid fehlt völlig.
Zumindest der lakonische Schreibstil entspricht streckenweise der angeblichen Einsamkeit der Figuren, wobei er oftmals zu schnoddrig, zu nachbarschaftlich, zu einfach ist. „Hundert Euro seien nicht schlecht. Geleckt zu werden sei auch nicht grundübel und irgendwie auszuhalten“, legt Krausser der 15jährigen Swentja als Gedankenspiel in den Kopf. Als Situation, als gegenmoralischer Witz funktioniert dieser Satz – sprachlich ist er jedoch wenig ambitioniert und die darin eingebettete Ironie keine feine, vielmehr plump. Zugleich zeigt sich in diesem Satz das Kapital des Buchs: Es zeichnet sich durch eine Art „gegenmoralische Haltung“ des Autors aus. Nicht amoralisch, sondern gegen die geltende Moral. Daraus ergeben sich natürlich einige komische Effekte, über die man schmunzeln kann – wenn man sich für einen Menschen mit einem Hang für abseitigen Humor hält. Andererseits nutzt sich dieser Effekt schnell ab, da einzig die Provokation als Basis dient. In diesem Sinne sind die Figuren für den Autoren liebe Werkzeuge, um böse Dinge zu schreiben und gleichzeitig die eigene (moralische) Überlegenheit zu demonstrieren. Insgesamt ist die gegenmoralische Haltung zu durchsichtig und kann darum nicht überzeugen.
Letztlich mangelt es dem Roman durch die Figurenüberfülle an Übersichtlichkeit. Viele der Handlungsfäden verknüpfen sich erst gegen Ende des Buchs miteinander. Diese späten Verknüpfungen wirken dabei oft gewollt bis hin zur Willkürlichkeit. Plötzlich kreuzen sich Wege, die vorher noch gar nicht vorhanden waren. Für das angenommene Sittengemälde hat Krausser leider einen zu groben Pinsel benutzt und auf zu kleiner Leinwand gemalt. Herausgekommen ist dabei ein streckenweise amüsantes, manchmal überraschendes, selten überzeugendes Buch, das seinem Titel nicht gerecht wird.
* * *
Helmut Krausser: Einsamkeit und Sex und Mitleid, Dumont, Köln 2009, 223 Seiten, ISBN 978-3-8321-8092-8, 19,95 €