Jetzt präsentiert Steckel einen „Othello“ mit verstörender Wirkung.
Die Titelrolle mit einer Frau zu besetzen, ist nichts Außergewöhnliches. Selbstverständlich könnte Susanne Wolff als „Der Mohr von Venedig“ überzeugend einen Mann spielen, ohne damit an der Aussage des Stücks irgendetwas zu verändern.
Befremdender wäre es, Othello tatsächlich als Frau erscheinen zu lassen, die in einer Männerwelt Karriere macht und dafür ebenso geehrt wie angefeindet wird, eine Frau, die sich noch dazu dadurch angreifbar macht, dass sie ihre Liebe zu einer Frau offen bekennt und durch Heirat legalisiert.
Der Gedanke, Jette Steckel habe „Othello“ als Emanzipations- und Lesbendrama interpretiert, scheint zunächst naheliegend, führt jedoch in die Irre. Zwar ist Susanne Wolff während des gesamten Stücks immer als Frau erkennbar, und auf dem Video, das am Anfang der Vorstellung Othello und Desdemona, heiße Küsse tauschend zeigt, sind offensichtlich zwei Frauen zu sehen. Zur Sprache kommt die Frauenproblematik in dieser Inszenierung jedoch nicht.
Für seine Gegner ist Othello ein bedrohliches Wesen aus einem unbekannten Land mit einer fremden, unverständlichen Kultur. Er wird beschimpft als Ding, als Kreatur, als finstere Gestalt, aber niemals als Frau.
Othellos Freunde schätzen ihn wegen seiner menschlichen Qualitäten und seiner Fähigkeiten, und für manche besitzt die Exotik des Fremden eine besondere Anziehungskraft.
Desdemona, eine junge Frau, die sich bis dahin für Verehrer noch gar nicht interessierte, hat sich mit bedingungsloser Liebe Othello zugewandt. Othellos Andersartigkeit berührt Desdemona nicht. Sie liebt dieses Wesen für seinen Mut und seine Abenteuerlust und ist entschlossen, sein Leben zu teilen. Für Othello bedeutet diese Anteilnahme Geborgenheit in der ihm fremden Welt.
Jette Steckel lässt den 1. Akt im Zuschauerraum spielen. Das Publikum ist das Volk und der Rat von Venedig. Die AkteurInnen agieren von den Sitzplätzen aus oder erscheinen auf den Seitengängen.
Kostümbildnerin Pauline Hüners hat die Mitwirkenden im 1. Akt mit Unisex-Bekleidung ausgestattet. Alle tragen Hosen und weiße Hemden. Trotzdem sind sie als Frauen und Männer erkennbar, und es ist irritierend, wenn Othello, die Frau mit langen Haaren, auch von Desdemona beständig als Mann bezeichnet und angesprochen wird.
Zunächst scheint die Welt für das Paar noch in Ordnung zu sein. Othello und Desdemona stehen auf der Vorbühne vor dem Eisernen Vorhang, sprechen über ihre Liebe und verteidigen sich souverän gegen die Anklagen von Desdemonas zornigem Vater (Helmut Mooshammer). Zwei starke Frauen, fest davon überzeugt, ihr gemeinsames Leben meistern zu können, auf dem Weg nach Zypern, in den Krieg gegen die Türken.
Die Bühne öffnet sich, indem der Eiserne Vorhang nach hinten auf den Boden herabstürzt und dort als schiefe Ebene liegen bleibt.
Bevor das Spiel darauf beginnt, entfachen der Musiker Mark Badur und Beatboxer Mando mit Klängen und Geräuschen einen Sturm gigantischen Ausmaßes, unter dem der Boden des Zuschauerraums erbebt und der die Luft zum Atmen wegzureißen scheint.
In diesem Sturm versinkt die türkische Flotte. Der Krieg findet nicht statt. Der Feind ist vernichtet, und die Venezianer, im fremden Land auf sich zurückgeworfen, bekämpfen einander oder sich selbst.
Die Kleidung ist jetzt individuell, betont die unterschiedlichen Charaktere. Othello erscheint im Nadelstreifenanzug und trägt kurze Haare. Dennoch bleibt Othello die Person mit dem falschen Geschlecht. Bis zum Schluss ist er auf der Suche nach einer Ausdrucksmöglichkeit für seine Identität, probiert Verkleidungen, unterschiedliche Verhaltensweisen und Rollenmuster, und verliert dabei immer mehr von seiner Persönlichkeit.
Susanne Wolff vollbringt eine sensationelle schauspielerische Leistung. Sie ist überzeugend und ergreifend mit jedem Blick, jeder Geste und jedem Wort. Dabei verkörpert Wolff eine Person, die als Einheit immer weniger wahrnehmbar wird, sich auflöst in flüchtige Erscheinungen, die kein Gesamtbild mehr ergeben. Das ist eine zutiefst verwirrende Entwicklung, die Susanne Wolff mit unglaublicher Intensität präsentiert.
Auch Desdemona spielt mit den Kostümen, in denen Othello sich selbst sucht. Sie jedoch legt das Affenkostüm oder die blonde Perücke wieder ab und ist unverändert.
Meike Droste lässt Desdemona als vitale, bei aller Naivität kluge Frau lebendig werden. Diese Desdemona ist kein demütiges, passives Opfer. Sie kann kämpfen, lehnt sich auf gegen Othellos Brutalität und Ungerechtigkeit. Dabei hört sie nicht auf, Othello zu lieben. „Nicht um die ganze Welt“ würde sie Othello betrügen, sagt Desdemona in einem wortwitzigen Dialog zu ihrer Vertrauten Emilia (Simone von Zglinicki), deren Grundsätze nicht ganz so streng sind.
Während Meike Droste als Desdemona über ihre unerschütterliche Liebe zu Othello spricht, entsteht spürbar und fast sichtbar das Bild des Othello, mit dem Desdemona so tief verbunden ist. Dorthin müsste Othello zurückkehren, um sich zu retten. Aber Othello hat sich schon zu weit von sich selbst entfernt und ist unerreichbar geworden für Desdemonas Liebe.
Jago, der Intrigant, sorgt im Grunde dafür, dass die verwirrende Geschichte Konturen bekommt. Ole Lagerpusch als Jago wirkt erst einmal gar nicht böse. Er ist ein Spieler, der die Puppen tanzen lässt, begeistert von seinen Einfällen und seiner Geschicklichkeit. Das Spiel, in das er seine Opfer hineinzieht, scheint lange Zeit gar nicht mörderisch. Es erscheint zwar riskant, aber brillant ausgedacht, eben ein Spiel, das irgendwann endet ohne die Realität zu verändern.
Jago bewirkt eine amüsante Szene, wenn er den rechtschaffenen Cassio (Peter Moltzen) betrunken macht und der, vom Rausch ergriffen, herumtorkelt und schwadroniert. Zwar verliert Cassio auf diese Weise Othellos Gunst, aber die lässt sich doch wohl zurückgewinnen.
Es ist fast verständlich, dass Jago der Verlockung nicht widerstehen kann, Othellos Liebe auf die Probe zu stellen. Jago erfindet Desdemonas Affaire mit Cassio, macht diesen zum nützlichen Idioten in einer weiteren komischen Szene, und schließlich fällt Jago auch noch das Taschentuch in die Hände, mit dem er den Beweis für Desdemonas Untreue konstruieren kann.
Jagos Intrigenspiel ist zeitweilig so leicht und unterhaltsam, dass es zu einer von Shakespeares Komödien gehören könnte. Wie Puck im „Sommernachtstraum“ könnte auch Jago das Spiel beenden, Beschimpfungen und Applaus für seine Streiche entgegennehmen und Alle wieder versöhnen.
Aber diese komödiantischen Einschübe, dazu gehört auch der Tanz des Narren (Paul Schröder) beim Flöhefangen, von Mando akustisch wirkungsvoll begleitet, sind weitere Irreführungen in dieser Inszenierung, die dabei immer wieder auf den Punkt kommt.
Die mörderische Grausamkeit Jagos zeigt sich am Schluss, wenn Jago Emilia tötet, indem er ihren Kopf an die Wand klatscht. Jago tut das einfach, entschlossen, mit unbewegter Mine und entpuppt sich als ein Wesen, das keine Gefühle kennt.
Der Mörder Othello entspricht dem Bild, das seine Feinde auf ihn projiziert haben. Er ist zur Bestie geworden, und er tötet, was er liebt.
Diese Szene ist erschreckend und entsetzlich traurig. Es dauert quälend lange, bis Desdemona begreift, dass ihr Othello nicht mehr Othello ist und sie ermorden will, bis sie versteht, dass es sinnlos ist, um ihr Leben zu bitten, bis sie aufhört, sich zu wehren, bis ihre Glieder nicht mehr zucken, und sie endlich still daliegt, von Othello erstickt mit einem Taschentuch.
Othellos Selbstmord folgt nicht aus der Verzweiflung darüber, dass er eine Unschuldige getötet hat. Dieser Othello kann Desdemonas Tod, seinen Mord an der Geliebten, nicht überleben.
Desdemona stirbt nur einmal. Othello jedoch muss sich selbst unzählige Male töten, um all seine Identitäten zu zerstören. Während auf Videoprojektionen die vielen Bilder von Othello vorbeilaufen, sticht er wieder und wieder auf sich ein.
Jette Steckel hat mit der Dramaturgin Anika Steinhoff eine gekürzte, sehr gut arrangierte Fassung des Shakespeare-Stücks erarbeitet, die von Frank-Patrick Steckel hervorragend ins Deutsche übersetzt wurde.
„Othello“ von William Shakespeare hatte am 27.11. Premiere in den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Weitere Vorstellungen: 1., 14., 15., 21. und 27.12.2009.