Wie so etwas kommt? Ganz einfach. Die Jurymitglieder vergeben Punkte. Natürlich nur für diejenigen, die sie schon gelesen haben. Auch die Jurymitglieder können nicht alles gleichzeitig lesen, aber lesen auf jeden Fall das, was auf die Liste kommt und dadurch verändern sich Listenplätze. Übrigens nicht immer nach vorne. Ein interessantes Phänomen, das wir verfolgen, das aber diesmal ganz einfache Erklärungen hat: Dieser Rankin ist saugut. Das gilt auch für Arne Dahls „Dunkelziffer“ aus dem Piperverlag, die auf Platz 5 vorrutschte, die vormonatliche Fünf, „Das Matratzenhaus“ von Paulus Hochgatterer aus dem Verlag Deuticke dagegen auf den 8. Platz abrutschte. Aber immerhin! Denn das muß man noch einmal grundsätzlich sagen, das Entscheidende ist nicht die interne Reihenfolge, sondern überhaupt auf diese Liste zu kommen.
Jetzt aber zu den Neuen, denn um die geht es! Ein Altbekannter hält Platz Vier ein. Das ist Paco Ignacio Taibo II, also der zweite Taibo, der Taibo Dos. Das bezieht sich darauf, daß auch dessen Vater mit demselben Namen ein spanischer Schriftsteller war. Der zog allerdings mitsamt der ganzen Familie 1957 nach Mexiko, weshalb wir Paco Ignacio Taibo II, der 1949 noch in Gijón geboren wurde, als Lateinamerikaner wahrnehmen, denn er ist derjenige, der sich schon als Journalist mit den Wirklichkeiten des mexikanischen Lebens auseinandersetzte und diese auch in seinen Kriminalromanen beschreibt und im eigentlichen Sinne dadurch zum Ziehvater des neuen lateinamerikanischen Kriminalromans wurde, in dem die Politik – so wie es in Mexiko tatsächlich ist – eine dominierende Rolle spielt, wie auch die enge Verschränkung zur Verbrecherwelt, mit der Wirtschaft verknüpft, immer aber auch die persönlichen Freiheiten Thema sind, die man in Gesellschaften, die nicht so übersichtlich sind wie die bundesdeutsche, eben auch hat.
Paco Ignacio Taibo II hatte sein „Der Schatten des Schattens“ schon länger niedergeschrieben, aber erst jetzt, nach fast 25 Jahren, wurde der im Mexiko von 1922 spielende Roman übersetzt und ist bei Assoziation A, PB erschienen. 1922? Das war erst 12 Jahre nach der mexikanischen Revolution, die eine ewigwährende bleiben sollte und eine Partei des gleichen Namens sollte dies sicherstellen. Es kam anders. Auch in diesem Roman kommt es anders, als man denkt. Wer intellektuelle Spiele liebt, aber auch Domino, der ist bei diesem Roman richtig. Denn, was heißt schon Krimi? Die wirklich guten Kriminalromane sind immer Romane, bei deren Lesen man nachher über die Welt und die Menschen mehr weiß als vorher. Und wenn sie dann noch Spaß machen, umso besser.
Friedrich Ani ist auch so einer, der einen in einen Lesestrudel hineinzieht. „Die Tat“, erschienen bei dtv und gleich auf Platz Sechs vorgestoßen, ist der dritte Seher-Krimi, dessen Hauptfigur der erblindete Exkommissar Jonas Vogel ist, dessen Markenzeichen nun wiederum ist: „Wer nicht sehen kann, sieht tiefer“. So auch hier, wo es um grausliche Dinge geht. Um einen Serientäter, denkt man, der mit Kordel aus Strohseide mordet. Frauen. Aber die jetzige Kordel ist gelb? Heißt das, das die Verdächtigen in der Familie – die Familienmitglieder sind bei jedem Mordfall die allerverdächtigsten, das verdrängt man nur gerne – doch die Täter sind? Friedrich Ani sagt über sein eigenes Buch: „Von den etwa zwanzig Kriminalromanen, die ich bisher geschrieben habe, gehört „Die Tat“ zu jenen, die ich gern in eine spätere Zeit mitnehmen würde.“ Und er kündigt an: „Für mich ist ’Die Tat` eine Art Reisepass für die Länder meiner künftigen Bücher.“ Zu den anderen Neuen Ausführlicheres das nächste Mal.
Lfd. Nr. |
Rang |
Vor-monat |
Titel |
1 |
1 |
(1) |
Josh Bazell: Schneller als der Tod Aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch S.Fischer, geb., 304 S., 18,95 € New York: Pietro Brwna heißt im Zeugenschutz Dr. Peter Brown und trotzt jetzt als Arzt dem Tod im Krankenhaus. Vergeblich. Das liegt am verluderten System und an seiner Vorgeschichte als Auftragskiller. Zum Brüllen intelligent: Bazell massakriert Medizin und Mafia. Viel besser als Koks. Macht schneller süchtig. |
2 |
2 |
(3) |
Martin Cruz Smith: Die Goldene Meile Aus dem Englischen von Rainer Schmidt C. Bertelsmann, geb., 256 S., 19,95 € Moskau: Maja flieht aus einem Provinz-Bordell in die Metropole. Trickbetrüger klauen ihr Baby. Die 15-jährige im Fight mit Luden, Mördern, Polizei und Straßenkinderbanden. Ermittler Arkadi Renko sucht derweil einen Serienkiller. Moskau unter Putin: Gier und Gewalt. Apokalyptisch. Erschütternd. |
3 |
3 |
(9) |
Ian Rankin: Ein reines Gewissen Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller Manhattan, geb., 512 S., 19,95 € Edinburgh: Bauruinen, flüchtige Banker. Eine Leiche am Kanal. Malcolm Fox, Interne Ermittlungen, ist involviert: der Tote war sein Schwager. Lokale Gangster fürchten um Investments, Fox wird kaltgestellt. Glaubhafte Figuren, trockener Humor: Mit Fox beginnt Rankins Krimileben nach John Rebus. |
4 |
4 |
(-) |
Paco Ignacio Taibo II: Der Schatten des Schattens Aus dem Spanischen von Harry Stürmer Assoziation A, PB, 232 S., 18,00 € Mexiko-City 1922: Vier Männer spielen Domino. Der Anwalt, der Dichter, der Journalist und der Anarchist. Nachdem alles vorbei ist – ein Aufstand, Schießereien, Massaker, Banküberfälle, ein Abendempfang, Verrat, eine Verschwörung – spielen sie Domino. Vier Gentlemen und das Chaos der Freiheit. Endlich auf Deutsch. |
5 |
5 |
(8) |
Arne Dahl: Dunkelziffer Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt Piper, geb., 416 S., 19,95 € Stockholm/Angermanland: Ein Mädchen verschwindet in nordischen Wäldern, wo Pädophile hausen. Das A-Team entdeckt, dass alles anders ist, als es gemeinhin scheint, als der erste Kinderschänder kopflos auf der Parkbank sitzt. Pädophilie: unheilbar. Rachedurst und Blutschande. Dahl probiert: das Schema umerzählen. |
6 |
6 |
(-) |
Friedrich Ani: Die Tat dtv, TB, 192 S., 8,20 € München: Kinder werden geschlagen, in aller Öffentlichkeit. Ungesehen. Einer guckt hin, bestraft Prügler und Prüglerin. Und verrennt sich. Der dritte Fall des blinden Kommissars Jonas Vogel führt ins Eishaus Familie. Und nicht wieder hinaus. „Der Mensch heißt Mensch, weil er zu feige ist, sich Viech zu nennen.“ |
7 |
6 |
(-) |
Michael Connelly: So wahr uns Gott helfe Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb Heyne, geb., 512 S., 19,95 € Los Angeles: Durch Mord am Verteidiger des Angeklagten erbt Michael Haller einen Promifall. Verfolgt von Harry Bosch, dem Seriendetective Connellys, versucht Haller, heil aus dem Justizbetrug zu flitschen, den sein Mandant samt Hinterleuten angezettelt hat. Connelly kennt sie, die US-Justiz. Ganz ohne Gottes Hilfe. |
8 |
7 |
(-) |
Gerben Hellinga: Dollars Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers Alexander Verlag, TB, 272 S., 14,90 € Amsterdam: Nach Knast und Holzfällen in Schweden kommt der smarte Sid Stefan ins heimatliche Amsterdam zurück. Statt mit Jeanette im Bette landet Sid in einer Mord- und Totschlagsgeschichte, in der alles von 1966 ist. Cordanzüge, knackige Stewardessen und Hochprozentiges. Amsterdam vor der Hasch-Ära. |
9 |
7 |
(5) |
Paulus Hochgatterer: Das Matratzenhaus Deuticke im Zsolnay Verlag, geb., 296 S., 19,90 € Furth am See: Unmerklich wie im wirklichen Leben sickert das Verbrechen ins Bewusstsein derer, die es erkennen müssten. Psychiater Raffael Horn und Kommissar Kovacs zweifeln: an sich selbst, an den Methoden ihrer Profession. Gewalt gegen Kinder, Missbrauch – bei Hochgatterer eindringlich entspektakulisiert. |
10 |
8 |
(-) |
Adrian McKinty: Der sichere Tod Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann Suhrkamp, TB, 464 S., 9,95 € New York/Mexiko: Eigentlich ist Michael ein Glückspilz. Er ist schlau, hat einen guten Bums und die Frauen fahren auf ihn ab. In Darkeys New Yorker Iren-Gang kommt er auch voran. Mit Darkeys Braut auch. Bis ein Job in Mexiko schiefläuft. New York 1992: 2000 Morde pro Jahr. Und ein Ire auf Rachetrip. |
Die „Bestenliste“ wird im Hörfunk immer am letzten Wochenende des Monats: Samstag, 24.4.2010 gegen 8.40 Uhr live; Sonntag 15.05 – 16.00 Uhr in der „Literaturzeit“ des NordwestRadio vorgestellt sowie in der Literarischen Welt am 24.4. 2010. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem letzten Samstag im Monat geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
Die Jury setzt sich zusammen aus:
Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt Volker
Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, Berg, „Druckfrisch“, Dlf, BR
Sven Boedecker, Zürich, Sonntagszeitung
Kathrin Fischer, Frankfurt/Main, Hessischer Rundfunk
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Thomas Klingenmaier, Stuttgart, Stuttgarter Zeitung
Ekkehard Knörer, Berlin, Perlentaucher, Crime Corner
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Jochen Schmidt, Düsseldorf, elder critic
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau
Hendrik Werner, Bremen, DIE WELT
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist Freitag, Plärrer
Alle weiteren plazierten Krimis entnehmen Sie bitte den Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Dreimal darf ein Buch einen Platz bekommen, dann scheidet es aus und hat nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die diesmal Ende Januar herauskommt.
Unter www.arte.tv/krimiwelt finden Sie die Bestenliste mit Kurzrezensionen der Juroren, Kommentaren des Jurysprechers („What’s New?“) und weiteren Informationen zu Büchern und Autoren („Krimiautoren A-Z“)