Lebemann Tucholsky? – Eine ARTE-Dokumentation sieht die »Wilden Zwanziger« durch eine rosa Brille

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Das hatte zwei Seiten. Nach dem Ersten Weltkrieg, der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« – meint Julian Windisch im ARTE-Magazin  – sei in Berlin der wilde Drang einer Generation zu spüren gewesen, die, vom Krieg befreit, das Leben genießen wollte. Keine Frage: Wer im Wohlstand lebte, lebte angenehm. Die Masse des Volkes aber litt unter Armut, Hunger und Arbeitslosigkeit, zu schweigen von Krüppeln und Kranken. Die revolutionäre Arbeiterbewegung stand in harten Kämpfen bei der Abwehr des Kapp-Putsches, in den Märzkämpfen in Mitteldeutschland und im Hamburger Aufstand. Das Aufbegehren trieb auch  progressive Künstler an. Ein Prototyp der kritischen und aufrührerischen Geister war Kurt Tucholsky, Journalist und Literat. Er schrieb an gegen Reaktion und Militarismus, verteidigte Republik und Demokratie.
Berlin und Tucholsky sind einen Film wert. Tuchos reichlich zitierte Texte sind ein Genuss, seine Intelligenz und Vielseitigkeit beeindrucken. Breit erzählt werden von Christoph Weinert Tucholskys Eskapaden, seine Liebschaften und sein Kräfteverschleiß. Nach der Verbrennung seiner Bücher durch die Nazis im Mai 1933 und seiner Flucht aus Deutschland bricht der Film ab. Er schließt mit der dürren Nachricht, Tucholsky sei 1935 in Schweden an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben. Was zwischen 1933 und 1935 in ihm und um ihn vorging, bleibt ausgespart. Dass die Niederlage der Arbeiterbewegung und der Demokratie einen Geist wie ihn in Einsamkeit, Resignation und Tod treiben konnte, passt nicht zum Bild des Frauenhelden und Lebemannes, das der Film hinterlassen will.
Schade, viel Bildmaterial, Text und große Besetzung mit Bruno Cathomas wurden aufgeboten. Tucholskys tragisches Scheitern könnte nachdenklich machen.
In der Serie folgen »Paris – ein Fest fürs Leben« am 29. April, und »Wien – ein Tanz am Abgrund« am 6.Mai. Die Klassenkämpfe der zwanziger und dreißiger Jahre in eben diesen Metropolen als Kehrseite könnten mindestens genau so viel sagen wie Glamour und Taumel am Vorabend der Katastrophe.
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Die wilden Zwanziger: Berlin und Tucholsky, Dokumentation von Christoph Weinert, ARTE/NDR, Deutschland 2015, 52 min, Mittwoch, 22. April 21.45 Uhr auf ARTE
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