Auch wer noch nichts von Robert Langdon weiß, kann mit dem neuen Buch einsteigen, denn die bisherigen Teile bauen nicht aufeinander auf. Was man wissen sollte, wird am Anfang wiederholt, etwa die Klaustrophobie, an der der Professor leidet, seit er als Kind eine Nacht wassertretend in einem tiefen Brunnen verbracht hat. Dennoch sind die Geschichten zeitlich geordnet und wer sowieso alle drei lesen möchte, dem sei die ursprüngliche Reihenfolge empfohlen: „Illuminati“ (engl. „Angels and Demons“), „Sakrileg“ („The Da Vinci Code“) und schließlich „Das verlorene Symbol“ („The Lost Symbol“). Dass der Titel dieses Mal wörtlich ins Deutsche übersetzt worden ist, spielt keine große Rolle, andere Nebensächlichkeiten sind aber genau das, worauf man beim Lesen (und beim eventuellen Miträtseln) achten sollte. Die gut durchdachte Handlung arbeitet wieder des öfteren mit zuvor versteckten Hinweisen; so zum Beispiel scheinbare Rechtschreibfehler, deren wahre Bedeutung sich erst später offenbart.
Auch sonst unterscheidet sich die Story nicht wirklich vom Erfolgskonzept ihrer Vorgänger: Ohne Ankündigung wird Robert Langdon in eine lebensgefährliche Situation hineingezogen, in der nur er helfen kann. Eigentlich ist ihm sein ruhiger, großer Hörsaal, in dem er immer weiter weiß und niemals Platzangst hat, viel lieber, als die überraschende Einladung eines Freundes oder Bekannten, der ihm erklärt, dass er und sein Wissen an diesem außergewöhnlichen Abend geradezu unverzichtbar seien. Aber natürlich lässt er sich breitschlagen, denn er möchte doch niemanden im Stich lassen und wer weiß, vielleicht wird der Abend ja auch ganz interessant.
Aus dem kompetenten Berater wird ein Abenteurer und aus dem kleinen Freundschaftsdienst wird ein Wettlauf gegen die Zeit, als die erste verstümmelte Leiche oder wenigstens ein abgetrenntes Körperteil auftaucht. Langdon erfüllt seine Aufgabe hervorragend, indem er sofort die wahre symbolische Bedeutung der in diesem Fall kunstvoll hergerichteten Hand erkennt. Bei dieser Gelegenheit lernt er eine Verwandte des Opfers kennen, Katherine, die seine umfassenden geschichtlichen Kenntnisse um aktuelles, meist technisches Fachwissen ergänzt, das ebenfalls irgendwie mit dem Fall zusammenhängt. Nun stößt wie immer eine dritte Partei hinzu: Die Polizei oder ein anderes staatliches Aufräumkommando. Dieses Mal ist es das Office of Security, die geheim-geheimste Abteilung des Geheimdienstes CIA.
Wir haben also inzwischen einen Bösen, der aus unmoralischen Beweggründen hinter einem Geheimnis her ist, an das zu diesem Zeitpunkt keiner außer ihm glaubt und das die Welt verändern wird. Er geht über Leichen und droht mit weiteren Personenschäden. Langdon und die Familie des Opfers sind die Guten. Sie wollen, anfangs unabhängig voneinander, weitere Morde verhindern. Deshalb versuchen sie, die vorhandenen Hinweise auf das Geheimnis zu deuten. Daraufhin glaubt der Staat, sie seien die Bösen und macht Jagd auf sie. Langdon muss demnach gleichzeitig vier Dinge tun: Rätsel lösen, den echten Bösen aufhalten, vor diesem fliehen und vor der Staatsgewalt fliehen.
Es folgt eine wilde Verfolgungsjagd von einem bekannten Ort mit bisher unbekannten Aspekten zum nächsten. In dieser Nacht erzählt uns Langdon alles, was Dan Brown zuvor in unzähligen Jahren Recherche über Freimaurer, Geheimgesellschaften, neueste technische Möglichkeiten und andere geheimnisvolle Erkenntnisse mit Verschwörungspotenzial herausgefunden hat. Teilweise greift er auch bereits bekannte Klischees auf und deutet sie um, um sich von gewöhnlichen Verschwörungstheoretikern abzuheben. Somit sind Teile dieser bewusst fiktiven Geschichte glaubwürdiger und seriöser als mancher tatsächlich ernst gemeinte Sachtext.
Der größte Teil der Geschichte geschieht innerhalb einer einzigen Nacht, die gesamte Handlung in nicht mehr als 24 Stunden; in denen aber in Rückblenden Stück für Stück die Vergangenheit der einzelnen Personen enthüllt wird. Durch die Vermeidung größerer Pausen gibt es keine Leerläufe, die man für eine mehrtägige Leseunterbrechung nutzen und aus der Geschichte herauskommen könnte. Ein Cliffhanger jagt den nächsten und weil mehrere Handlungsstränge parallel erzählt werden, die trotzdem zu jedem Zeitpunkt zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen, gibt es ständig einen Grund weiterzulesen, selbst wenn bei einer Figur gerade ein Problem gelöst ist.
Gleichzeitig ist durch dieses System auch gewährleistet, dass der Leser ab und zu aufatmen kann, gewissermaßen als Belohnung dafür, weiter gelesen zu haben. An diesem Problem scheitern ja die meisten TV-Serien, deren Zuschauer genervt abschalten, weil die Spannung konsequent aufrechterhalten wird und sowieso keine Besserung der Situation in Sicht ist. So wird aus Nervenkitzel leicht eine hoffnungslos deprimierende Grundstimmung, der Dan Brown mit ständigen Teilerfolgen entgegenwirkt, ohne die noch ungeklärten Fragen aus dem Auge zu verlieren.
In zahlreichen phantasieanregenden Details beschreibt er sowohl die vielen, teilweise auch wiederholt vorkommenden Zeichen und Symbole, als auch die Gewalt und Gräueltaten, die im Namen der unterschiedlichsten Konzepte wie nationaler Sicherheit, Religion, Weisheit, Gerechtigkeit und Erfüllung von Schicksal verübt werden. Zarte Gemüter werden vermutlich hier und dort ein paar Seiten weiterblättern, um die schrecklichsten Morde zu überspringen, aber im Vergleich mit Thrillern anderer Autoren bleibt Brown in einem gewissen Rahmen und lässt die Gewalt nicht gänzlich ausufern.
Stattdessen konzentriert er sich auf die Unterbringung von möglichst vielen Anekdoten zu seinem Lieblingsthema Religionsgeschichte, die weitgehend unbekannt sind und oft ein ganz neues Licht auf Dinge werfen, die wir alle kennen, aber vielleicht nie richtig verstanden haben…
Nachdem nach und nach immer mehr Parallelen zu den bisherigen Büchern auffallen, stellt sich natürlich die Frage, warum man sich dieses Buch für den nicht unerheblichen Preis von 26,00 Euro kaufen sollte. Was macht es besser als die anderen? Tatsächlich ist das Hauptargument für die Großartigkeit von „Das verlorene Symbol“ die Tatsache, dass die Vorgänger auch schon großartig waren. Neben dem mysteriösen Versprechen, das größte Geheimnis der Freimaurer zu lüften, wenngleich wohl nicht das echte, ist dieses Argument ein gutes, angesichts der marginalen Unterschiede zu den Teilen eins und zwei, deren Erwähnung beinahe spitzfindig wirkt:
Nach „Illuminati“ (CERN bei Genf, Rom) und „Sakrileg“ (Paris, London, Rosslyn Chapel) bleibt Robert Langdon erstmals während eines ganzen Buches in einer einzigen Stadt. Am Ende weiß der Leser, dass das völlig ausreicht. Dan Brown hat auch dieses Mal wieder ganze Arbeit geleistet und mehr geschichtsträchtige Orte mit der Thematik in Zusammenhang gebracht als der Durchschnittsbürger themenunabhängig mit Washington, D.C. verbinden würde.
Auch wer bereits mit den anderen Langdon-Abenteuern vertraut ist und glaubt, nun schon alles zu kennen, wird wieder verblüfft sein von den unerwarteten Wendungen und den Ideen, mit denen immer wieder scheinbar ausweglose Probleme gelöst werden. Und natürlich wartet am Ende noch eine große Überraschung. Zudem verzichtet dieses Buch endlich auch auf eine Liebesaffäre zwischen dem durchtrainierten Harvard-Professor und seiner jeweiligen weiblichen Begleitung.
Am grundlegenden Aufbau hat sich allerdings seit dem ersten Teil „Illuminati“ nichts geändert, warum auch? Die genaue Recherche und das Einbinden möglichst vieler wahrheitsgetreuer Fakten in eine packende Geschichte, die wahr sein könnte, wenn sie nicht erfunden wäre, ist beinahe schon eine Erfolgsgarantie. Natürlich entspringen die meisten Schlussfolgerungen der Fantasie des Autors. Deshalb erhebt sein Werk auch zu keiner Zeit den Anspruch, ein Sachbuch zu sein. Kein Enthüllungsjournalismus, sondern Unterhaltungsliteratur, ein Unterschied, den leider nicht alle Fans zu begreifen scheinen.
Nicht nur Robert Langdon ist erfunden, sondern auch die jahrhundertelang gehüteten Geheimnisse, die er entdeckt. Wahr sind aber die Fakten, die im Buch zu des Rätsels Lösung führen, die Orte, die besucht werden, die Symbole, die dort zu finden sind, einschließlich ihrer Bedeutung und ihrer Geschichte. Real sind auch die vielen teils wunderlichen technischen Geräte und Methoden, die bisweilen von Geheimdiensten oder vergleichbaren Organisationen genutzt werden. Sie alle sind bereits heute im Einsatz.
Eben diese umfassende Recherche ist es, die die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit verschwimmen lässt. Deshalb klärt ein Vorwort zwischen Danksagung und Prolog darüber auf, was authentisch ist und was nicht. Die Lösung ist einfach: Die gesamte Basis der Geschichte, alles bis auf die finale Lösung ist echt. Lediglich die Interpretation einzelner Symbole, die dann zu Dingen führen, von denen die Menschheit bisher nichts wusste, ist auf die Story zugeschnitten. Es werden Vermutungen angestellt und Zeichen entdeckt, die vielleicht gar keine sind, aber niemals werden die Fakten selbst verdreht. Und das macht den Reiz an den Büchern des großen Meisters Dan Brown aus.
Dan Brown "Das verlorene Symbol", gebundene Ausgabe (765 Seiten), Verlag: Lübbe, Preis: 26 Euro