Kinder haben ein feines Gespür dafür, wenn etwas nicht stimmt, ein sehr feines. Bruno (Asa Butterfield) nicht. Die Eingangsszene zeigt ihn ausgelassen durch die Straßen laufend – während im Hintergrund Menschen deportiert werden. Aus der Stadt müssen Bruno, seine ältere Schwester Gretel (Amber Beattie) und die Mutter in ein entlegenes Haus ziehen, da der Vater (David Thewlis) versetzt wurde. Bruno langweilt sich, so dass er mal eben zum nahe gelegenen Konzentrationslager schlendert. Die Erwachsenen bekommen davon nichts mit, weder innerhalb noch außerhalb des Lagers. Bruno erkennt das Lager, dessen Kommandant sein Vater ist, nicht als solches. Verständlich: Wachtürme und Soldaten sieht man hier nicht. Boyne geht soweit, den kleinen Schmuel auf der anderen Seite des Lagerzauns sitzen zu lassen. Kinder wurden gewöhnlich nach Ankunft im Lager ermordet. “Der Junge im gestreiften Pyjama”, für den Bruno seinen neuen Freund hält, kann sich hingegen ungestört am Stacheldrahtzaun unterhalten. Brunos Schwester hängt Hitler-Bilder auf, der Hauslehrer verbreitet Rassenlehre. Bruno aber begreift nichts, selbst, als er das KZ betritt, um Schmuel bei der Suche nach dessen Vater zu helfen. Ob es darin so gemütlich ist, wie in dem Propagandafilm, den Brunos Vater vorführt? Warum sonst fliehen die Gefangenen nicht, wenn selbst Kinder wie Bruno den Zaun überwinden können? Für die Grenzübertretung muss Bruno büßen. Es regnet und gewittert, Geigen schluchzen, gleich wird es tragisch. Was, wenn es dein Kind gewesen wäre? Seine Frage stellt das Drama mit aufdringlicher Scheinheiligkeit. So fehl am Platz wie die modernen Tapeten in Brunos Zimmer, die Wohlgenährtheit Schmuels und der gesamte rührselige Kinderfilm.
In Boynes Jugendbuch ist Bruno neun, in der Verfilmung acht Jahre. Konzentrationslager kennt er nicht. Genau wie viele andere Dinge: Lebensmittelrationierung, Bombardierung, Diskriminierung sind ihm so fern wie der Film der Realität. Verstünde Herman es, die naive Kinderperspektive als Metapher für Wegsehen anzulegen, würde die Unbedarftheit Sinn machen. So steht sie als Entschuldigung für das angebliche Nicht-Wissen der Allgemeinheit. Die Blauäugigkeit hat Bruno wohl von seiner Mutter übernommen. Dass die Gattin eines Lagerkommandanten in unmittelbarer Nähe eines KZs lebt und nicht ahnt, was darin vorgeht, scheint unmöglich. “Sie müssen das doch-!“, beginnt ein Soldat einmal. Nein, sie weiß nichts. Dennoch inszeniert Herman sie als Anständige, weil sie sich deinem KZ-Häftling gegenüber ein ‚Danke‘ abringt. Die Figuren bleiben seelenlose Schablonen. Die aufkommende faschistische Gesinnung Brunos zwölfjähriger Schwester Gretel wird vage mit einer Verliebtheit in einen jungen Offizier begründet. Naziideologie verharmlost der Film, indem er sie mit kindlicher Schwärmerei gleichsetzt. Dekoriert sie die Zimmerwände mit Hitler-Postern und spielt deutsch-nationalistisch Schallplatten, wirkt das wie eine pubertäre Phase. Doch die faschistische Ideologie ist keine Modetorheit. Ein einziges mal erhascht man einen Hauch von Schrecken, als Bruno die ausrangierten Puppen seiner Schwester im Keller wie tote Leiber gestapelt sieht.
Wie kann das sein, dass ein Volk nichts gewusst haben soll und die, welche begriffen, nicht einschritten? “Der Junge im gestreiften Pyjama” gibt vor, diese Frage aufzuwerfen: in kindgerechter Art, doch kindgerecht wird hier zu kindisch und unglaubwürdig. Dies macht den Film umso unerträglicher, je länger man darüber nachdenkt. Das historische Drama lehrt, wie viele die Vergangenheit gerne sehen würden: als großes Missverständnis, die ewige Mär davon, man habe nichts gewusst. Doch statt den Selbstbetrug anzuprangern rechtfertigt der Film ihn. “Der Junge im gestreiften Pyjama” richtet sich an ein junges Publikum, wie Boynes Buch. Das macht beide besonders bedenklich.
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Titel: Der Junge im gestreiften Pyjama
Genre: Drama
DVD-Start: 23. September 2009
Regie: Mark Herman
Drehbuch: John Boyne, Mark Herman
Darsteller: Asa Butterfield, Jack Scanlon, Amber Beattie, David Thewlis
Laufzeit: 39 Minuten
Verleih: Miramax