Kurs Nordpol für die Wissenschaft – Mit FS. „Polarstern“ unterwegs im Nördlichen Eismeer

Der Autor 1990 auf dem Gipfel der Welt. © Dr. Peer Schmidt-Walther

Überblick

Weithin sichtbar liegt der kobaltblaue 140-Millionen-„Dampfer“ im Isfjord vor Anker.
Auf der Brücke modernste Technik, obwohl der bundeseigene 11.000-Tonner des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung fast schon 17 Jahre auf dem Buckel hat. Immer noch gilt der Forschungseisbrecher als eines der modernsten Schiffe seiner Art.
Dann geht es noch höher hinauf ins Krähennest: 30 Meter über dem Oberdeck im Dreibeinmast liegt die Eisausguckstation mit Funk- und Radarantennen, Messgeräten und Satellitenempfangsanlage. Was hier an Wetterdaten aufgefangen wird, verwandelt ein Rechner unten in der meteorologischen Zentrale zu aktuellen Wetterkarten des Nordpolargebiets. So lassen sich Termine und Kurs für optimale Beobachtungen auf die Wetterlage abstimmen. Die Nahaufklärung übernehmen die beiden Bordhubschrauber, die per Radar die „Polarstern“ durch Treib-, Pack- und Festeis lotsen.
„Wo bleibt bei so viel Technik und Absicherung das Abenteuer?“, denke ich mit leichtem Bedauern, als ich nach dem Auslaufen des Schiffes gemütlich im geheizten Schwimmbecken meine Runden drehe. Plötzlich entsteht Seegang im Pool, das Planschen wird zum Wellenbad. Von draußen hört man Rumpeln, erst in Abständen, dann häufiger.

Erste Erschütterungen

Als ich kurz darauf an Deck stehe, ist die See mit Eisschollen übersät – wir haben die Treibeisgrenze passiert. Obwohl die „Polarstern“ ihre Fahrt drosselt, erschüttern sie die Kollisionen. Die Schollen drängen sich allmählich zu Feldern zusammen, ballen sich zu Packeis. Der weit ausladende Löffelbug des Schiffes schiebt sich sanft auf die Platten, reißt Spalten in die bis zu zwei Meter dicken Eisfelder, die unter der Last von 16.000 Tonnen Stahl bersten. Dabei schwankt die „Polarstern“ wie in schwerer See.
Das schabt und kratzt, als schnitten die Schollen durch die Wandungen. Wenn ganze Barrieren zerbrechen, kracht es explosionsartig; Wasser- und Eisfontänen schießen in die Luft. An Schlaf ist kaum zu denken. Das Getöse schwillt mit wachsender Eisdicke zu Gewitterstärke an. Das Schiff zittert, rumpelt, ruckt und schaukelt, obwohl es durch eine unbewegte, starre Fläche pflügt.

Bordpalaver

Am nächsten Morgen ist das die Begleitmusik zum ersten Bordpalaver, wie die regelmäßigen Konferenzen der 34 Wissenschaftler im Vortragsraum salopp genannt werden. Unsere Forscher-Crew ist international und interdisziplinär gemischt: deutsche Biologen, schwedische Atomphysiker, norwegische Glaziologen, englische und deutsche Ozeanographen, isländische Zoologen, dänische Ökologen. Die beiden Forschungsschwerpunkte auf dieser Reise sind Meereschemie, – biologie, – geologie, Ozeanografie und Meteorologie. Der Expeditionsleiter erläutert den Kurs: an der Westküste Spitzbergens entlang bis auf etwa 81 Grad Nord, Schwenk nach Osten und nordwestlich der Inselgruppe dann ein Vorstoßversuch in nördlicher Richtung bis auf 83 Grad Nord in das Eisgebiet vor der Nordostspitze Grönlands.
Auf dieser Reise wollen die Meteorologen herausbekommen, welche Rolle die Arktis als Klimafaktor spielt. Schließlich gelangen von dort immer wieder Kaltluftblasen in unsere Breiten und sorgen für so manchen kühlen Sommer. Die Biologen sammeln Daten über die Lebensbedingungen im ewigen Eis, in der Mischzone von salzigem Meer- und süßem Schmelzwasser sowie über die Reichweite von zivilisatorischen Schäden. Die Geologen untersuchen Sedimente, zeichnen untermeerische Profile per Computer und suchen Aufschlüsse über die Tektonik des Meeresbodens. Die Ozeanographen wiederum haben die Fram-Straße zwischen Nord-Spitzbergen und Nordost-Grönland im Visier. Sie vermuten dort eine untermeerische Schwelle, über die hinweg ein Wasseraustausch zwischen Nordpolarmeer und Nordatlantik stattfindet. „Lange Zeit glaubte man, dass das Polarmeer ein in sich geschlossenes Becken sei, in dem die Wassermassen seit Jahrhunderten ohne Austausch liegen“, erklärt einer der Forscher. Die Versuchung lag nahe, das Gebiet nördlich der Fram-Straße als Auffangbecken für radioaktive Abfälle anzusehen.

Eisskulptur

Tag für Tag dringt die „Polarstern“ weiter ins Packeis vor, erreicht den Übergang zum polaren Festeis und bleibt trotz ihrer gewaltigen Dieselmotoren zuweilen zwischen mehrere Meter starken Schollpaketen stecken. Das nutzen die Glaziologen zu Bohrungen im Eis, die Biologen zur Spurensuche. In einen doppelwandigen, leuchtend-orangenen Überlebensanzug verpackt, beobachte ich die Forscher bei der Arbeit und bestaune von außen die Abmessungen unserer 118 Meter langen schwimmenden Festung. Der Hubschraubermechaniker wacht mit einer Jagdflinte, um uns vor allzu neugierigen Eisbären zu schützen.
Nebel macht uns zu schaffen. Hier, wo arktische Luft- und Wassermassen mit atlantischen zusammentreffen, wabern das ganze Jahr über Wolkenvorhänge. Die Feuchtigkeit gefriert an den Tauen und Aufbauten, Antennen und Streben: Schwarzer Frost. Die „Polarstern“ wird zur Eisskulptur, ihre Decks verwandeln sich in Eisbahnen. Richtig gefährlich wird es, als die Sonne den Grauschleier durchbricht. Die malerischen Zapfen und Eisornamente platzen von Tauen und Geländern und gehen als kiloschwere Bomben nieder.
Zehn Tage sind wir im Slalom an der Packeisgrenze nach Nordwesten gefahren. Jetzt arbeiten wir uns langsam in Richtung Pol vor. „Durchkommen oder nicht durchkommen, heißt die Frage“, murmelt der Kapitän immer wieder. Schier unaufhaltsam bohrt sich „Polarstern“, deren Stahlmantel einen Eisdruck von 900 Tonnen pro Quadratmeter aushält, tiefer in die arktische Panzerung. Nur knapp 400 Seemeilen trennen uns von jenem magischen Punkt, um den sich die Erde dreht. Dies wird mit ein paar Runden Bier im „Zillertal“ begossen, wie man einen Raum der rustikalen Mannschaftsmesse getauft hat.

150.000 Euro teure „Rosi“

Fieberhaft nutzen die Forscher am nächsten Morgen die extreme Situation. Das führt beinahe zu einem kostspieligen Verlust. Die Ozeanografen haben „Rosi“, ihre 150.000 Euro teure Wasserschöpfsonde, auf zwei Kilometer Tiefe abgesenkt, als plötzlich der Draht zu brechen droht. Eisgang hat daran gesägt, und nur mit riskanten Reparaturmanövern gelingt schließlich die Bergung. Der Hauptrechner der „Polarstern“ speichert inzwischen auf zahllosen Magnetbändern die Daten, die nach mehrjähriger Auswertung ein vollständiges Bild der Randzone des Nordpolarmeeres liefern sollen.
Die Zoologen bekommen erst in „südlicheren“ Breiten richtig zu tun, denn nach Norden haben die Tierpopulationen schon aus Nahrungsmangel rapide abgenommen. Auf dem Rückweg kehren sie dann wieder: Robben und Lummen, Sturmvögel und Möwen. Und unsere Glaziologen haben bei einem Ausflug sogar eine Begegnung mit einem 800 Kilogramm schweren Eisbären, dem sie nur mit knapper Not entkommen. „Wie viele dieser Könige der Arktis gibt es wohl?“, frage ich einen der isländischen Zoologen. „Wir haben bei Überfliegungen und mit Hilfe von Markierungen noch etwa 1.200 gezählt“, sagt er.

Keine romantischen Weltverbesserer

Dieses „Noch“ beherrscht viele Debatten. „Noch“ hat die Radioaktivität aus Niederschlägen von Atomtests und aus Wiederaufbereitungsanlagen am Polarmeer die kritische Grenze nicht überschritten. „Noch“ bleibt die Luftverschmutzung in den internationalen Toleranzgrenzen. „Noch“ ist die Wetterbelastung durch Müll und Überdüngung unterhalb der üblichen Alarmstufe. „Noch“ hat der Walfang nicht alle Chancen auf Regeneration der Bestände dieser Meeressäuger vernichtet.
Es sind keine romantischen Weltverbesserer, die hier ihre Analysen machen, Messdaten sammeln und Proben nehmen. Doch die interdisziplinäre Zusammenarbeit zeigt deutlicher als alle Einzelanalysen, wie sich die Schäden addieren.
Vier Wochen nach dem Start in Spitzbergen erreichen wir das norwegische Tromsö. Zusam-men mit den Wissenschaftlern gehe ich hier von Bord. Pro Tag hat die Reise der „Polarstern“ über 60.000 Euro gekostet. „Ein Einsatz, der sich lohnt“, sagt der Fahrtleiter. Nur die „Polarstern“ bietet die Möglichkeit, jenseits von 80 Grad Nord diese Forschungen zu betreiben. Das Leben an Bord fördert die Gruppen- und interdisziplinäre Zusammenarbeit. Viele Ergebnisse werden sofort ausgewertet. Vor allem aber können hier Wissenschaftler diskutieren, die sonst über Tausende von Kilometer voneinander entfernt arbeiten.

Informationen FS "Polarstern"

Die Bundesrepublik Deutschland schuf sich in den Jahren 1980 bis 1985 die technischen Voraussetzungen für ein langfristiges wissenschaftliches Engagement in den Polargebieten: Das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven (mit einer Forschungsstelle in Potsdam seit 1992), das Polarforschungs- und Versorgungsschiff „Polarstern“, zwei Polarflugzeuge sowie die ständig besetzten Forschungsstationen „Neumayer“ in der Antarktis und „Koldewey“ (seit 1991) in Spitzbergen/Arktis.
„Polarstern“ hat seit ihrer Indienststellung 1982 bis 1997 siebenundzwanzig Expeditionen in Arktis und Antarktis abgeschlossen und ist gegenwärtig das leistungsfähigste Polarforschungsschiff der Welt. Sie ist konzipiert für Arbeiten in den Polarmeeren, einschließlich der Packeiszone – jene Gebiete der Welt, die am wenigsten erforscht sind und eine Schlüsselfunk-tion für die Klimaentwicklung der Erde haben.
Das Schiff ist für biologische, geologische, geophysikalische, glaziologische, chemische, ozeanographische und meteorologische Forschungsarbeiten ausgerüstet.

„Polarstern“ ist ein doppelwandiger Eisbrecher, der bei Außentemperaturen von bis zu –50 °C arbeiten und gegebenenfalls im Eis der polaren Meere überwintern kann. Neben For-schungsaufgaben übernimmt „Polarstern“ die Versorgung der antarktischen Überwinterungsstation „Neumayer“ und der Sommerstationen.
Das Schiff hat eine Besatzung von 41 bis 44 Personen und Arbeitsmöglichkeiten für bis zu 50 Wissenschaftler und Techniker. Außerdem bietet es Kabinenplätze für die Überfahrt in die Antarktis zu Stationen und Messkampagnen. Neben deutschen beteiligen sich regelmäßig zahlreiche ausländische Wissenschaftler an den Expeditionen von „Polarstern“.
„Polarstern“ wurde bei der Howaldtswerke/Deutsche Werft, Kiel und der Werft Nobiskrug, Rendsburg, gebaut und ausgerüstet. Das Eisbrechkonzept entwickelte die Hamburgische Schiffbau-Versuchsanstalt. Eigentümer ist das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Betreiber das Alfred-Wegener-Institut.
Das Schiff wird im Auftrag des AWI von der Reederei Martini GmbH Bremen bereedert.
Hinsichtlich der Fahrtplanung wird das AWI von einem Nutzerbeirat unterstützt. Die Integration in internationale Forschungsprogramme spielt dabei eine große Rolle.
„Polarstern“ kann 1,5 Meter dickes Meereis mit einer Geschwindigkeit von ca. 5 Knoten durchfahren. Mehrjähriges Eis und mächtige Presseisrücken können durch Rammen gebrochen werden.
Der Hauptantrieb des Schiffes besteht aus vier Dieselmotoren, die zwei Verstellpropeller antreiben. Querstrahler an Bug und Heck tragen zur hohen Manövrierbarkeit bei. Eine Flossenstabilisierungsanlage und eine Rolldämpfungs- und Krängungsausgleichsanlage bewirken ein gutes Seegangsverhalten.
Das Schiff wird mit modernen Navigationsanlagen, wie z. B. GPS (Global Positioning System) gefahren. Genaues Positionieren ist mit der Joystick-Einhebelsteuerung möglich. Für die wissenschaftliche Nutzung steht eine integrierte Navigationsanlage zur Verfügung, die automatische Bahnführung wie auch dynamische Positionierung höchster Präzision erlaubt.

Wissenschaftliche Ausrüstung

„Polarstern“ ist ein modern ausgerüstetes Forschungsschiff. Auf dem großen, beheizbaren Holzplanken-Arbeitsdeck sind acht Winden für ozeanographische, biologische, geologische und geophysikalische Arbeiten, auch in großen Tiefen, installiert. Zwei Schiebebalken können bis zu drei Meter über die Schiffsseite hinaus bewegt werden. Ein 15-Tonnen-Kran mit einem Arbeitsradius von 4 bis 24 Meter kann seinen Ausleger bis auf die Wasseroberfläche senken, wodurch ein Pendeln der Forschungsinstrumente verhindert wird. Zusammen mit einem weiteren Kran (25 Tonnen) auf dem Vorschiff ist „Polarstern“ auch für Versorgungsaufgaben optimal ausgerüstet.
Fischereinetze, geologische und geophysikalische Geräte werden über einen schwenkbaren A-Rahmen am Heck geschleppt. Neben den navigatorischen Echoloten stehen für wissen-schaftliche Untersuchungen ein Fächer- und Kartierungslot (Hydrosweep) mit einer Tiefenreichweite von mehr als 10.000 Metern und ein Tiefsee- und Sediment-Vermessungslot (Parasound) mit einer Eindringtiefe in den Meeresboden bis 150 Meter zur Verfügung.
Für Forschung in einiger Entfernung vom Schiff sind in der Regel zwei Helikopter auf „Polarstern“ stationiert. Für die Forschung im Nahbereich des Schiffes stehen die zwölf Meter lange Forschungsbarkasse „Polarfuchs“ und Schlauchboote zur Verfügung.
„Polarstern“ hat neun wissenschaftliche Labors. Zusätzliche Laborcontainer können an Deck und in dafür vorgesehenen Räumen unter Deck gestaut werden. Ein wissenschaftliches Bordrechnersystem (VAX-, Unix-Rechner sowie PCs) kann für Online- und Offlineverarbeitung von Daten eingesetzt werden. Es erfasst und speichert laufend meteorologische und ozeano-graphische und, bei Bedarf, weitere Daten. Um diese direkt mit navigatorischen Daten zu verknüpfen, ist das Rechnersystem mit dem Navigationssystem gekoppelt.
Wissenschaftliche Kühlräume mit wahlweise Temperaturen von –32 °C bis +5 °C in drei Kammern, ermöglichen die Lagerung von Eis in seiner Originaltemperatur und das Tiefge-frieren wissenschaftlicher Proben. Ballonaufstiege von Radiosonden für Atmosphärenmes-sungen sind von Bord aus möglich. Die Bordwetterwarte enthält u. a. eine Empfangsanlage für Satellitenbilder.

Technische Daten

Länge über alles: 118 m
Länge zw. den Loten: 110,5 m
Breite auf Spanten: max. 25 m
Seitenhöhe bis Hauptdeck: 13,6 m
Tiefgang: max. 11,21 m
Verdrängung bei max. Tiefgang: 17.300 t
Leergewicht: 11.820 t
Motorleistung (4 Masch.): ca. 14.000 kW (20.000 PS)
Höchstgeschwindigkeit: 16 kn
Fahrtgeschwindigkeit bei 2-3 Maschinen: 10-12 kn
Klassifikation: Germanischer Lloyd, 100 A 4 Arc 3, MC Arc 3, Aut 16/24
Baujahr/-ort: 1984, HDW/Nobiskrug

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