Kulturgeschichtliches von Hildegard von Bingen bis Rosemarie Nitribitt – Serie: Zum Jahresübergang die alten und neuen Bücher aus vielen Bereichen (Teil 17/20)

Ja, es gelingt Peter Borscheid in der Tat, uns unsere eigenen fremdbestimmtes Wesen, das sich bei Journalisten im Anspruch an Beschleunigung noch einmal potenziert, aus der Geschichte unserer Welt erklärlich zu machen, entschuldbar dennoch nicht. Aber das ist nicht Borscheids Ansatz, der wirklich eine Kulturgeschichte und keine Moralgeschichte schreibt, in der die Entwicklung der Produktivkräfte ihren Einfluß auf die Gestaltung des Lebensraumes unserer Gesellschaften nimmt. Dies gelingt ihm in drei Kapiteln, deren erstes er die „Startphase 1450 – 1800“ nennt, die aus dem Prinzip Langsamkeit erwächst und zu schnelleren Waffen und schnelleren Maschinen führt.

Dennoch ist die „Beschleunigungsphase 1800-1950“ diejenige, die Ursache unserer heutigen Probleme ist. Das alles, wie Geschwindigkeit produziert wird, die Eisenbahn, die Dampfmaschine, der Funk, das Automobil, – man kann gar nicht alle Objekte aufzählen, deren weg- und zeitsparende Erfindung uns dann insgesamt zu weniger Zeit und mehr Wegen führen, – das wird im Detail dargestellt, mitsamt der Beschleunigung des Marktes, selbst der künstlerischen Produktionen und Moden. Den Rest gibt uns dann noch die „Tempophase seit 1950“, die Zeit der Elektronik, die es möglich macht, gar nicht mehr selbst zu leben, sondern dies virtuell durchzuziehen und dann macht es noch „Bauz“ mit der Jagd nach der Nanosekunde. Ach, wenn wir das Buch doch nicht nur lesen, sondern die Erkenntnisse, daß „Fortschritt“ nicht per se gut ist, anwenden könnten!

Vergnüglicher zu lesen ist „Kulturgeschichte der deutschen Küche“ von Peter Peter, im Beck Verlag erschienen, obwohl einem da die Eßgewohnheiten der Mitmenschen auch einen Strich durch die Rechnung machen, daß wir uns mit „Fortschritten“ schmücken könnten. Wie die Germanen wohl aßen, darum geht es auch, und schöne Beschreibungen der Kräuter und Grundküche der Hildegard von Bingen und der Klosterdiät liegen ebenfalls vor. In seiner Eßkulturgeschichte hat der Autor tatsächlich anhand von Kochbüchern und anderen Lebensweisheiten für jede Epoche die dazugehörige Küche sinnlich deftig für uns aufbereitet. „Murmeltier mit Speck“ heißt es beispielsweise für die Kochbücher des Humanismus.

Barocke Exzesse, aber auch die Kultur des Trinkens in Deutschland kommt zur Sprache, wichtig, was durch die Entdeckung fremder Erdteile an Speis und Trank hinzukam, wobei die Schokolade, Kaffee und Tee eine besondere Rolle spielen. Aber auch die Jetztzeit kommt nicht zu kurz, flankiert von der Kriegs- und Nachkriegsküche, der DDR-Broilers, den jetzigen Starköchen und den verkommenen Eßgewohnheiten, was eine Collage von Klaus Staeck auch im Bild darstellt, der Manets „Frühstück im Freien“ zum modernen Plastikpicknick ergänzte. Überhaupt die Bilder, die sind wunderbar in den schön gedruckten Text integriert, bräunlich wie alte Fotos, auch neuere Bilder, was dem Buch mit Marlene Dietrich vorneweg gut tut, die hier nicht nur die Kochschürze trägt, sondern die für ihre hausfraulichen Tugenden, mit denen sie ihrer Umwelt die Mägen füllte, in der neuen Welt als gute fürsorgende Deutsche berühmt ist.

Dazu paßt doch gut, „Ritter durften noch rülpsen“ von Susanne Mutschler von DVA mit dem Untertitel „Die Kinder-Uni fragt, woher die Manieren kommen“. Und diese Zielrichtung macht klar, daß es nicht um den Verfall der Manieren geht, der allerorten konstatiert wird, sondern erst einmal klärt, warum man heute nicht mehr auf den Boden spuckt – im Biedermeier gab es dafür noch die allerliebsten Spucknäpfe aus Porzellan – , kein öffentliches Wettfurzen veranstaltet, sich die Nase mit einem Taschentuch putzt, mit Messer und Gabel ißt, in unseren Breitengraden an Tischen und nicht auf dem Boden undsoweiterundsofort. Das ist ein ganz feines Buch, auch dieses einfach schön ausgestattet und die Illustrationen von Klaus Ensikat sind dann gut geeignet, eine halbe Seite Text zu sparen und gleich zum Wesentlichen zu kommen: der Unart.

„Tollkirschen und Quarantäne“ heißt ein Buch aus dem Wagenbach Verlag, hinter dem sich „Die Geschichte der Spanischen Grippe“ verbirgt, für jeden Kunstkenner, erst recht Kunstliebhaber, untrennbar mit dem Namen Egon Schiele verbunden. Tatsächlich starben er, der 28jährige, und seine Frau gleich mit, im Unglücksjahr 1918. Der Autor sagt auf Seite 94 „Der Erste Weltkrieg ist der Dreh- und Angelpunkt der Spanischen Grippe“, was er uns aber klar macht, ist, daß eine Zeit jeweils ihre eigenen Viren und Krankheitsbilder apokalyptischen Ausmaßes erzeugt. Er schreibt über Pandemien, Epidemien, über Lunge und Kopf als Befallsorgane, über die Schweine und die Vögel. Ja, manchmal nicht leicht, Wahrheiten ins Gesicht zu sehen, sicher aber notwendig, will man überleben. Man will.

„Verwaltete Lust“ ist ja nun was ganz anderes, aber etwas Kulturgeschichtliches eben auch. Dieses Buch hat Fritz Koch im Waldemar Kramer Verlag herausgegeben mit dem Untertitel „Stadtverwaltung und Prostitution in Frankfurt am Main 1866 – 1968. Unglaubliches lesen wir da. Aber erst einmal ist wichtig zu wissen, daß dies Buch Teil einer Reihe ist: Studien zur Frankfurter Geschichte, die von Evelyn Brockhoff herausgegeben wird, als Leiterin des Instituts für Stadtgeschichte. Als Leser ist es nicht auf Frankfurter angewiesen, sondern auf alle diejenigen, die am Beispiel Frankfurts wissen wollen, was Bordellverbote und Zwangsheilungen, die die preußische Besatzung in Frankfurt versuchten, bewirken, wie man sie erhebt, umgeht und wohin die Zunahme der Prostitution führte.

Es geht um Wohnverbote für solche Damen des schrägen Gewerbes, die gleichzeitig um ihre Gesundheit fürchten mußten, aber noch mehr ihre Sklaventreiber, denn Mädchenhandel gab es in diesem Bereich immer. Man ist beim Studieren jeweils hin-und hergeworfen zwischen Mitgefühl und Kopfschütteln. Aber nichts Moralisches ist hier Thema, sondern die nüchterne Bestandsaufnahme, was war, wie die Geschlechtskrankheiten zunahmen, wie man dies mit einer kommunalen Gefährdetenfürsorge auffangen wollte. Das Ganze bleibt nicht historisch von gestern, sondern schließt mit der Rosemarie Nitribitt auch das wirtschaftswunderliche, also prosperierende Frankfurt mit ein. Dabei haben wir gelernt, Prostitution nimmt sowohl zu, wenn es den Leuten schlecht geht, wie, wenn es den Leuten gut geht.

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Peter Borscheid, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Campus Verlag 2004

Peter Peter, Kulturgeschichte der deutschen Küche, Beck Verlag 2008

Susanne Mutschler, Ritter durften noch rülpsen. Die Kinder-Uni fragt, woher die Manieren kommen, Deutsche-Verlags-Anstalt 2008

Wilfried Witte, Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe, Wagenbach Verlag 2010

Fritz Koch, Verwaltete Lust. Stadtverwaltung und Prostitution in Frankfurt am Main 1866-1968, Waldemar Kramer Verlag 2010

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