Konsequenzen oder Rituale? Deutsche Politik und unsere Nachbarn

Bundesflagge.
Die Flagge der Bundesrepublik Deutschland oder Bundesflagge. Quelle: Pixabay

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Auf der Krim werden vermehrt die sterblichen Überreste deutscher Soldaten gefunden. Sie können auf dem fast überirdisch schönen deutschen Soldatenfriedhof nahe der Hafenstadt Sewastopol nicht beigesetzt werden, weil die dafür zuständigen deutschen Behörden jede Zusammenarbeit mit den russischen Behörden verweigern. Wendet man sich an den Herrn Bundespräsidenten, bleibt man ohne Antwort. Was soll man von einem Land halten, das sich seinen Gefallenen gegenüber wegen der aktuellen NATO-Politik so verhält?

Gehen die Mahnungen ins Leere?

Es ist eine Frage des Anstandes und der Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft, der Toten zu gedenken. Die Geschichte des letzten Jahrhunderts kennt zu viele Anlässe. Nichts davon sollte aus dem Blickfeld gerückt werden, weil aus einer derartigen Einstellung neues Elend entsteht. Gilt das nicht in besonderer Weise für Stalingrad und dem unermeßlich hohen Blutzoll, den die Menschen jenseits von Brest für den Angriff des Deutschen Reiches auf die damalige Sowjetunion gezahlt haben? Warum wird fünfundsiebzig Jahre nach dem Ende der Stalingrader Schlacht nicht der Millionen Opfer dieses Krieges gedacht? Warum weigert sich die Bundesregierung, den Opfern die Ehre zu erweisen? Warum lassen wir uns gegen Russland durch eine ebenso verlogene wie aggressive Politik wieder in Stellung bringen? Ausgerechnet von jenen angeblichen Verbündeten, die mit dem Krieg gegen Österreich-Ungarn und das kaiserliche Deutschland 1914 nichts anderes im Sinne hatten als die endgültige Vernichtung Deutschland und der Donaumonarchie? Warum sprechen alle in Europa wieder von Krieg mit und gegen Rußland, wenn wir endlich einmal wahrhaben könnten, dass es Moskau war, das den Schlüssel für die Einheit Deutschlands uns zu treuen Händen überlassen hatte?

Will man unter allen Umständen vermeiden, daß der riesige und fast nicht überbrückbare Unterschied zwischen dem millionenfachen Leid für die Menschen jenseits von Brest und unserer heutigen Politik diesem Land gegenüber sichtbar wird? Russland und seine
Menschen beantworten das, was ihrem Land und ihnen angetan worden ist, mit dem aufrichtigen Wunsch nach guter Nachbarschaft. Wo, in Gottes Namen, hat es eine derartige Einstellung schon einmal gegeben? Berlin verhält sich, als ginge Berlin diese Einstellung nichts an. Darin ist Berlin so ganz anders als Bonn.

Warum setzen wir nicht durch, dass einzig die „Charta von Paris“ aus dem November 1990 und damit wenige Wochen nach der deutschen Wiedervereinigung, das bestimmende Dokument der europäischen Zusammenarbeit bleibt? Krieg sollte nach den Schrecknissen des
vergangenen Jahrhunderts aus Europa verbannt bleiben. Es waren Bill Clinton als amerikanischer Präsident und seine Außenministerin, Frau Albright, die mit dem ordinären Angriffskrieg gegen Jugoslawien die alte europäische Kriegsordnung wieder hergestellt haben.

Wir müssen den europäischen Automatismus stoppen und uns dem Krieg verweigern

Es ist gerade die Abfolge historisch bedeutender Daten, die die Dimension aggressiven Vorgehens gegen andere Staaten und Völker deutlich macht. Das sehen wir in der Zeitspanne zwischen dem 8. Januar 1918 und dem Juni 1919, zwischen den berüchtigten „14-Punkten“ des amerikanischen Präsidenten Wilson, dem November 1918 Waffenstillstand und dem Vertrag von Versailles. Man hatte sich auf der britischen Insel und in Frankreich vorgenommen, das kaiserliche Deutschland und Österreich-Ungarn zu vernichten. In diesen Tagen, im Januar 2018, war es der derzeitige britische Oberbefehlshaber, der davon öffentlich schwadronierte, dass man eigentlich schon 1912 (und nicht erst 1914) gegen die sogenannten Mittelmächte losschlagen wollte. Die völlige Vernichtung Deutschlands war nicht möglich. Es musste Versailles her, um einem einstmals in der Vorkriegszeit blühenden deutschen Staat die innere Pest an den Hals zu setzen, damit das militärische Ziel der Vernichtung Deutschlands aus Deutschland selbst heraus in Gang gesetzt werden konnte. Ekelerregende Kräfte konnten nur über Versailles in Deutschland freigesetzt werden.

Es ist diese Abfolge, bei der jeder politische Beobachter den Eindruck haben muss, dass zwecks Erreichen global-strategischer Ziele dieser Mechanismus heute gegenüber der Russischen Föderation und der staatlichen Führung in Moskau in Gang gesetzt werden soll. Es hat uns alle aus „blauem Himmel“ heraus getroffen, was Obama und Frau Clinton zu Beginn dieses Jahrzehntes gegenüber unseren russischen Nachbarn in Gang gesetzt haben. Aufmarsch und die tödlichen Militär-Mätzchen des Kalten Krieges sind nichts dagegen. Amerikanische Generale schwätzen wieder in Europa vom großen Krieg. Man glaubt es kaum und hält es vor dem Hintergrund der heutigen Politik für ein Märchen, dass im Sommer 2012 das Stabsmusikcorps der Bundeswehr noch auf dem Roten Platz in Moskau aufspielen konnte. Mehr ausgestreckte Hand von russischer Seite geht nicht. Und wie war die deutsche Antwort? Deutsche Regierungsmitglieder waren aktiv in dem Kiewer Putsch involviert und dieser wurde gegen Moskau instrumentalisiert. Soll Russland ein Ko-Schlag nach dem Modell 1914 versetzt werden, um es anschließend von innen heraus vernichten zu können? Uns stellt sich eine Frage: Mourir pour Washington? Das richtet sich keinesfalls gegen den derzeitigen amerikanischen Präsidenten Trump. Zwar scheint jeder amerikanische Präsident „seinen“ Krieg führen zu wollen, aber bislang ist Präsident Trump nicht auffällig geworden, wenn es um den Kampfeinsatz geht. Fraglich ist jedoch, ob sich sein Einflußbereich über den „Rosengarten“ am Weißen Haus hinaus erstreckt oder unter der Militärführung im Weißen Haus nicht längst die globalen amerikanischen Militärbefehlshaber das Gesetz des Handelns in die Hand genommen haben. Lediglich eines scheint nicht zu funktionieren. Im Kalten Krieg wurde die Sowjetunion totgerüstet. Heute scheint diese Absicht nicht zu verfangen. Bei uns obsiegen wohl die „Zwei-Prozent-Fetischisten“.

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Willy Wimmer
Staatssekretär des Bundesministers der Verteidigung a.D. Von 1994 bis 2000 war Willy Wimmer Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).