Kommt ISIS?

Screenshot LiveLeak, 2014-11-16
Im Jerusalemer Distrikt-Gericht stand der frühere Ministerpräsident Ehud Olmert seiner ehemaligen Sekretärin, Schula Saken, gegenüber. Keiner konnte seine Augen von ihnen abwenden. Es war der Stoff, aus dem die Fernseh-Seifenopern gemacht sind.
Schula war ein 17jähriges Jerusalemer Mädchen, als sie Ehud das erste Mal traf. Er war ein junger Advokat, sie war eine neue Sekretärin im selben Büro.
Seitdem, seit mehr als 40 Jahren, war Schula Ehuds Schatten, eine sehr treue Sekretärin, die ihrem ehrgeizigen Chef von Station zu Station folgte – Bürgermeister von Jerusalem, dann israelischer Handelsminister und schließlich Ministerpräsident. Sie war seine engste Mitarbeiterin, seine Vertraute, alles. 
Und dann ging alles in die Luft. Olmert wurde verschiedener großer Korruptionsaffären angeklagt und wurde gezwungen, zurückzutreten. Seit Jahren ist er jetzt wie ein festes Inventar in den Gerichtsräumen und beim TV Justizberichte geworden. Schula Saken, jetzt 57 Jahre alt, eher eine beleibte, beherzte Matrone, ist seine Mit-Angeklagte. Sie unterstützte ihn durch dick und dünn, bis er in seiner Zeugenaussage alle Schuld auf sie legte. Schula wurde für 11 Monate ins Gefängnis gesteckt. Ehud wurde (wieder) entlassen.
Dies war der Wendepunkt. Es stellte sich heraus, dass die treue Sekretärin jahrelang die privaten Gespräche ihres Chefs mit ihr aufgenommen hatte. Sie behauptet, dass sie nicht leben könne, ohne jederzeit seine Stimme zu hören. Andere sahen darin eine Art Lebensversicherung. 
Und tatsächlich nachdem Schula in dieser Woche ein Abkommen mit der Anklagevertretung gemacht hatte, hörte sich das Gericht eine ganze Menge von Aufnahmen an, die Olmert für Jahre ins Gefängnis bringen können. 
Das Drama zwischen den beiden Personen war unwiderstehlich. Es stand vor allen anderen Nachrichten und wischte fast alles andere vom Tisch. Aber wenige beschäftigten sich mit der realen Bedeutung der Affäre. 
Die Berichte zeigten auf der höchsten Ebene der Regierung eine völlig von Korruption durchzogene Atmosphäre. Große Bestechungssummen kursierten als Selbstverständlichkeit. Die Beziehung zwischen den Magnaten und dem Ministerpräsident war so intim, dass Olmert jeden Magnat per Telefon bitten konnte, Zehntausende Dollar an seine Sekretärin zu zahlen für sein persönliches Luxusleben und dann für ihr Schweigen.
Die Berichte zeigen nicht, was die Ultrareichen dafür bekamen. Man kann nur raten.
Es sieht so aus, als ob dieselbe Symbiose zwischen den Spitzenpolitikern und den „Wealthies“, (das amerikanische Synonym für „stinkreich“) in den USA herrscht. Auch in dieser Hinsicht wächst die Ähnlichkeit der beiden Länder. Wir haben tatsächlich gemeinsame Werte – die Werte der winzigen Gruppe von Plutokraten, die die Spitzenpolitiker in beiden Ländern beschäftigen.
Während jeder auf die Gerichts-Szenen starrte, wer beobachtete, was sich jenseits unserer Grenzen ereignete?
Vor etwa 2400 Jahren waren die Gallier dabei, einen nächtlichen Überraschungsangriff auf Rom zu starten. Die Stadt wurde von den Gänsen des Tempels auf dem Kapitolhügel gerettet; sie machten einen solchen Lärm mit ihrem Geschnatter, dass die Bevölkerung bei Zeiten aufwachte. 
Wir haben keinen Tempel und keine Gänse, die uns warnen könnten, nur einige Nachrichtendienste mit einer gleichbleibenden Höchstleistung von Misserfolgen.
ISIS ist weit weg. Laut Netanjahu haben wir Feinde in Hülle und Fülle, die viel näher sind: Hamas, Mamoud Abbas, „die Palästinenser“, „die Araber“, Hisbollah und irgendwo in der Ferne „die Bombe“ (d.h. im Iran).
Meiner Meinung nach, ist keiner davon eine existentielle Gefahr für uns. ISIS ist es. 
Wie ich schon früher sagte, soll ISIS („der islamische Staat“) keine militärische Gefahr darstellen. Die gegenwärtigen und vorherigen Generäle, die Israels Politik gestalten, können nur lachen, wenn diese Gefahr erwähnt wird. Ein paar zehntausend leicht bewaffnete Kämpfer gegen das riesige israelische militärische Establishment Israels? Lächeln, wenn diese Gefahr erwähnt wird.      
In der Tat, so ist es. In militärischer Sprache. 
Die Israelis sind wie die Amerikaner praktische Leute. Sie erkennen die Macht der Ideen nicht an. Sie denken wie Stalin, der, als er vor dem Papst gewarnt wurde, fragte: „Wie viele Divisionen hat er?“
Es sind Ideen, die die Welt verändern. Wie jene des legendären Moses. Oder Jesus von Nazareth. Oder Mohammed. Oder Karl Marx. Wie viele Divisionen hatte Lenin, als er durch Deutschland in einem versiegelten Zug fuhr?
ISIS hat eine Idee, die über die Region hinweg sausen kann: das tun, was Mohammed tat, das Kalifat wieder herzustellen, das von Spanien bis Indien herrschte, die künstlichen Grenzen wegzufegen, die die islamische Welt teilen, die erbärmlichen und korrupten arabischen Herrscher zu vertreiben, die Ungläubigen (einschließlich uns) zu vernichten. 
Für Millionen und Aber-millionen junger Muslime in ihren kraftlosen und verarmten erfolglosen Staaten ist dies eine Idee, die ihren Rücken aufrichtet und ihre Brust schwellen lässt.
Ideen können nicht von Spionage-Drohnen geknackt werden. Sie können nicht aus schweren Bombern vernichtet werden. Die amerikanische Überzeugung, dass man historische Probleme  durch Bombenangriffe lösen könne, ist eine primitive Illusion.
Es ist eine alte israelische Beschwerde, dass, wann immer irgendetwas in unserer Region falsch läuft, Israel die Schuld gegeben wird. Denke an Sabra und Shatila. Wie unser damaliger Stabschef erklärte: „Goyim töten Goyim, und den Juden wird die Schuld gegeben“.
Noch einmal. ISIS hat nichts mit uns zu tun. Es ist eine rein islamische Angelegenheit.  Aber viele Leute geben Israel die Schuld.
Doch dieses Mal ist die Vorwurf nicht ohne Grund. Israel betrachtet sich selbst als eine Insel in der Region, die berühmte „Villa im Dschungel“. Doch das ist Wunschdenken. Israel liegt mitten in der Region – und ob wir es akzeptieren oder nicht: alles, was wir tun oder nicht tun, hat einen riesigen Einfluss auf  alle Länder rings um uns. 
ISIS` erstaunliche Erfolge sind eine direkte Folge der allgemeinen Frustration und Demütigung, der sich eine neue arabische Generation durch unsere militärische Überlegenheit gegenüber sieht. Die Unterdrückung der Palästinenser wird von jedem in der arabischen Welt gefühlt. 
(Gestern sah ich zufällig im Fernsehen einen alten Saudi-Film über eine Schülerin, die von ihrer Lehrerin dafür bestraft wurde, weil sie Fahrrad gefahren ist. Die Strafe war eine Geldstrafe „für unsere palästinensischen Brüder“. Der Film hatte absolut nichts mit Palästina zu tun).
Falls Israel nicht existieren würde, müsste ISIS es erfinden. 
In der Tat könnte jemand mit einer Wahnvostellung für Verschwörungstheorien zu der Überzeugung gelangen, dass Benjamin Netanjahu und seine Lakaien geheime ISIS-Agenten seien. Gibt es eine andere vernünftige Erklärung für ihr Tun?
Es ist eine der Hauptgrundsätze von ISIS, dass der Kampf gegen Israel ein Religionskrieg sei, in dessen Zentrum die Heiligen Stätten in Jerusalem sind. 
Seit Monaten hat eine Gruppe jüdischer Zeloten in Jerusalem einen Sturm entfacht, in dem sie sich für den Bau eines dritten Tempels an Stelle der beiden islamischen heiligen Bauten einsetzen, den Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee. Diese Gruppe wird toleriert und sogar von der Polizei und der Regierung gefördert – und schafft tägliche Nachrichten.
Die heiligen Stätten (oder der „Tempelberg“) ist eine der sensibelsten Orte auf der Welt. Welcher vernünftige Mensch würde den Status Quo umstürzen und Juden erlauben, dort zu beten, und den politischen Konflikt in einen religiösen verwandeln, gerade wie es ISIS wünscht? 
In diesen Tagen sind im annektierten Ost-Jerusalem täglich gewalttätige  Proteste. Die Regierung  hat gerade ein Gesetz verabschiedet, das erlaubt, Steine werfende palästinensische Teenagers müssen für neun Jahre ins Gefängnis. Das ist kein Tipfehler: Jahre, nicht Monate. 
Der letzte Gaza-Krieg hat die Gefühle in der ganzen arabischen Welt erregt. Die menschlichen und materiellen Verluste, an denen die palästinensische Bevölkerung litt, bleibt immens, wie auch die Wut in der ganzen Region. Wer gewinnt? ISIS. 
Und so weiter. Ein ständiger Strom von Taten und Untaten bestimmt, dass die Palästinenser, alle Araber und die ganze muslimische Welt sich aufregen. Nahrung für ISIS-Propaganda. 
Warum, um Gottes willen, tun unsere Politiker dies? Weil sie nur Politiker sind. Ihr einziges Interesse liegt darin, die nächsten Wahlen zu gewinnen, die früher kommen könnten, als es das Gesetz fordert. Die Araber unten zu halten, ist gängig. Und die traditionelle Verachtung für alles Arabische macht sie blind für die ernsten Gefahren, die vor uns liegen.
ISIS mag der Beginn einer neuen Ära in unserer Region sein. Eine neue Ära macht eine neue Bewertung der Realität nötig. Die gestrigen Feinde werden die Freunde von heute und die Verbündeten von Morgen werden. Oder umgekehrt. 
Falls ISIS jetzt die vorrangig existentielle Gefahr für uns ist, müssen wir unsere Politik umfassend neu beurteilen. 
Nehmen wir die arabische Friedensinitiative. Seit Jahren hat sie herumgelegen, wie ein weggeworfenes Butterbrot-Papier. Sie sagt, dass die ganze arabische Welt bereit sei, Israel anzuerkennen und normale Beziehungen mit ihm knüpfe, als Gegenleistung  für das Ende der Besatzung und  ein umfassendes israelisch-palästinensisches Friedensabkommen. Unsere Regierung hat nicht einmal darauf geantwortet. Die Besatzung und die Siedlungen sind wichtiger. 
Hat das Sinn? Frieden mit Palästina auf der Basis einer panarabischen Initiative würde viel Wind aus den ISIS-Segeln nehmen.
Wenn ISIS jetzt unser Hauptfeind ist, werden die vorgestrigen Feinde  mögliche Verbündete. Selbst der widerwärtige Bashar al Assad. Zweifellos der Iran, Hisbollah und die Hamas. Israel muss seine Einstellung gegenüber all diesen neu überdenken.
Als die mongolische Invasion 1258 den Irak zerstörte und drohte, die ganze Region zu erobern, öffnete der Kreuzfahrerstaat seine Tore und ließ die muslimische Armee passieren und nach Ein Jalud im Jesreeltal marschieren, wo sie die Mongolen in einer Schlacht vernichteten, was die Geschichte veränderte. 
Nur ein Israel, das mit Palästina Frieden schließt, kann sich einer neuen regionalen Ausrichtung anschließen, um ISIS gegenüber zu treten, bevor es die ganze Region verschlingt. Dies ist eine Sache des Überlebens.
Ein großer israelischer Staatsmann würde die historische Herausforderung  und die historische Gelegenheit wahrnehmen – und sie ergreifen. Leider ist kein großer israelischer Staatsmann in Sicht. Nur die kleinen Netanjahus, die nun mit der Geschichte von Ehud und Schula vernietet sind.

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Unter www.uri-avnery.de erfolgte die Erstveröffentlichung. Alle Rechte beim Autor.

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