Allerdings war der Adam Smith durchaus kein schlechter Ökonom und seine Lehre funktioniert auch unter bestimmten Voraussetzungen, die er auch selbst dafür nennt. Dazu gehören vor Allem, dass alle Marktteilnehmer etwa über die gleiche Marktmacht verfügen, sowie eine nahezu vollständige Informiertheit über die Gesamtheit des Marktes, seiner Angebote. Um die Gleichheit der Marktmacht zu gewährleisten, müssen nahezu alle Konsumenten oder Nachfrager auch selbständige Produzenten sein. Dies war gewährleistet in einer Gesellschaft, wie der der nördlichen amerikanischen Kolonien bzw. Staaten jener Zeit, in welcher der Großgrundbesitz keine entscheidende Rolle spielte, und der Großteil der Bevölkerung sich aus selbständigen Farmern und selbständigen Handwerkern zusammensetzte. Eigentliche Bougeoies waren ebenso selten, wie eigentliche Proletarier. Auch die Forderung nach der weitestgehenden Informiertheit aller Marktteilnehmer war in der Lokalität einer solchen Gesellschaft gegeben. Die größte Errungenschaft des ökonomischen Denkens von Smith ist allerdings seine Arbeitswertheorie. Sie besagt, dass der eigentliche Wert einer Ware davon bestimmt wird, wieviel Arbeitszeit zu ihrer Produktion aufzuwenden ist. Der Markt- oder Tauschwert, d.h. der Preis, kann um diesen Wert schwanken, sich aber nie von ihm abkoppeln. Diese Lehre ist von den sogenannten modernen liberalen Ökonomen weitestgehend vergessen worden. Den späteren Ideologen des Kapitalismus war eine solche Bedeutung der Arbeit und damit des Arbeiters nicht genehm. Übernommen wurde die Arbeitswerttheorie allerdings von Karl Marx.
Mit der Herausbildung des eigentlichen Kapitalismus entschwanden die Voraussetzungen für das wirkliche Funktionieren der Smith-Ökonomie. Zwischen der Marktmacht von Bourgeoies und Proletarier klaffen Abgründe. Mit dem Übergang zum Trust- und Monopolkapitalismus konnte dann selbst zwischen den Bourgeoies nicht mehr von gleicher Marktmacht die Rede sein. Auch die umfassende Informiertheit aller Marktteilnehmer ist in einer komplexen Industriegesellschaft kaum noch zu gewährleisten, schon garnicht in der globalisierten von heute.
Nun, im sich entfaltenden Kapitalismus, setzt die Analyse von Karl Marx ein. Der Autor betrachtet sie immer noch, auch und gerade in der jetzigen Zeit der Krise, hochaktuell ein, und dem kann man nur zustimmen. Viele der von ihm analysierten Tendenzen kommen eigentlich erst jetzt zum vollen Durchbruch. Für die Entwicklung des 20. Jahrhunderts beschäftigt sich Peter Zudeik nun vor allem mit den Lehren des Meynard Keynes und den Bemühungen der neoliberalen Ökonomen, sich mit ihren Glaubensmaximen wieder in den Vordergrund zu drängen, was ihnen ja dann auch, zum Ende dieses Jahrhunderts, auch wenn wohl nur zeitweilig, wie sich heute abzeichnet, gelang. Leider beschäftigt er sich garnicht mit der weiteren Entwicklung des marxistischen ökonomischen Denkens in dieser Zeit, als würde Marx heute erstmalig wiederentdeckt. Schließlich galt Marx erst nach 1990 zeitweilig als tot und begraben, spielte aber sowohl in der Arbeiterbewegung als auch in den sogenannten realsozialistischen Ländern eine wesentliche Rolle, unabhängig davon, wie gut oder schlecht die Umsetzung seiner Theorien dort gewesen seien mag.
Ausführlich geht der Autor auf die Tendenz der neoliberalen politischen Fraktionen ein, jegliche Fragen nach vernünftiger sozialer Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, als pure Neiddebatte einzustufen, und damit als von vornherein indiskutabel. Er geht ausführlich auf das Wesen dieser menschlichen Eigenschaft ein. Er konstatiert, dass dieses Phänomen hauptsächlich innerhalb der gleichen sozialen Gruppe bzw. in der Nachbarschaft eine Rolle. Man neidet das, was eine vergleichbare Person erreicht hat und man selbst nicht. Eigentlich aus der eigenen Situation heraus Unerreichbares, wie meinetwegen die Segelyacht eines Popstars, wird zumindest weit weniger beneidet, als der größere Wagen des Kollegen. Neid müsse auch nicht unbedingt eine negative Eigenschaft sein, wenn er zu größeren eigenen Anstrengungen beflügelt, seine Fähigkeiten zu entwickeln und anzustrengen, um ebenfalls mehr zu erreichen. Das nennt er weißen Neid. Erst wenn er zur feindseligen, potentiell aggressiven Missgunst wird, zum schwarzen Neid, wird er zur eindeutig negativen, zerstörerischen Kraft. Mit Debatten um eine vernünftigere Verteilung des gesamtgesellschaftlichen Reichtums hat das alles aber wenig zu tun. Deren grundsätzliche Brandmarkung als Neiddebatten ist nur das ideologische und politische Kalkül jener Klassen, die ihren hemmungslosen Reichtum bewahren wollen.
Peter Zudeik geht dann auf die Grundvoraussetzung aller neoliberalen Theoriebildung ein, den Menschen als sogenannten homo oeconomicus verstehen zu wollen. Die besagt, dass jeder Mensch in jeder Situation immer seinen maximalen ökonomischen Vorteil sucht. Demgegenüber führt er zahlreiche Beispiele aus spielerischen Experimenten in gestellten Situationen heran. Ich teile die Grundvoraussetzung der neoliberalen Theoriebildung zwar auch keineswegs, stehe diesem Typ psyschologischer Experimente aber auch kritisch gegenüber. Ihre Zuverlässigkeit ist nicht größer, als die Umfragewerte bei der Frage, wen man den wählen würde, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Die Befragten wissen ja, dass dies in Wahrheit nicht der Fall ist.
Aber der Autor des vorliegenden Buches schürft noch tiefer. Er setzt sich mit der Frage auseinander, ob nicht der Kapitalismus vielleicht nicht der menschlichen Natur entspricht, weil der Mensch vielleicht eben gemäß seiner genetischen Ausstattung hoffnungslos egoistisch veranlagt, wie es die Verfechter der kapitalistischen Ordnung gerne behaupten. Besonder bekannt geworden ist hier der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins mit seinem 1976 erschienenen Buch „Das egoistische Gen“. Allerdings halte ich schon den Ansatz dieser Frage für falsch: Der Kapitalismus ist nur gut für eine kleine Minderheit. Für die Mehrheit der Menschen, die arbeitenden bzw. auf Arbeit angewiesenen Klassen und Schichten, wäre eine sozialistische Ordnung vorteilhafter. Also auch wenn die Menschen naturgemäß vollkommen egoistisch wären, könnte und müsste der Kapitalismus überwunden werden, so bald die Mehrheit ihre wahren Interessen begreift.
Trotzdem ist es allerdings richtig, sich mit dem Buch von Richard Dawkins auseinanderzusetzen und die darin dargestellte Theorie auf ihre wissenschaftliche Haltbarkeit hin zu prüfen. Folgt man dem was in „Das egoistische Gen“ dargestellt ist, so würden wir in erster Linie von unseren Genen gesteuert, und diese wollen im Grunde nur eines, sich so oft wie möglich kopieren. Dies müsste einen Menschen dann also folgerichtig dazu bewegen, sich selbst erst einmal so lange am Leben sowie kräftig und gesund zu erhalten, so lange man zeugungsfähig ist, in dieser Zeit so viel Sex wie möglich zu haben und so viele Nachkommen zu erzeugen, wie irgend möglich.
Nur auf den ersten oberflächlichen Blick, scheint dies mit den Tatsachen übereinzustimmen. Doch beim näheren Nachdenken gibt es bereits Unstimmigkeiten. Die meisten Menschen möchten allerdings auch dann noch weiterleben, wenn möglich auch gesund und gut ernährt, wenn das Alter sich überhaupt oder noch mehr Kinder anzuschaffen überschritten ist. Bringt denn das noch was für die egoistischen Gene? Man könnte das noch erklären, wenn man annimmt das bereits Kinder und vielleicht auch Enkel da sind und sie als Väter und Mütter oder Omis und Opis diese beim Heranwachsen unterstützen. Denn dies darf man nicht vergessen, der Sex allein hilft den egoistischen Genen gar nichts, wenn nicht auch Kinder geboren werden und diese dann ebenfalls das fortpflanzungsfähige Alter erreichen. Also der pure Egoismus nutzt den Genen gar nichts, ohne etwas Elternliebe und familiären Zusammenhalt kommen die Gene auch nicht weiter.
Dann sehen wir auch noch, dass sich in modernen Gesellschaften die meisten Menschen nur durchschnittlich zwei Kinder anschaffen. Kann denn das dem Willen unserer egoistischen Gene entsprechen, die sich doch wohl so viel wie möglich kopieren wollen? Man kann natürlich auch hierfür Erklärungen finden. Es sei eben in unserer heutigen Gesellschaft schwer fünf oder gar zehn Kinder groß zuziehen, vielleicht nicht so sehr wegen der Ernährung, aber was die Möglichkeiten einer guten Ausbildung betrifft, gut genug, damit sie dann ihrerseits erfolgreich eine Familie gründen können. Das mehrheitliche Verhalten sei eben eine optimale Strategie zum Fortbestand unserer Gene. Aber wer entscheidet darüber, welche Strategie optimal ist, ist dazu überhaupt in der Lage? Sicher nicht die Gene, sondern das Gehirn.
Wir entfernen uns aber bereits immer mehr von irgendeiner simplen Sicht, wie das uns unsere egoistischen Gene eben zum Fressen und zum Sex treiben. Da kommen nun Familien ins Spiel, deren optimale Struktur abhängig ist von den gesellschaftlichen Verhältnissen ist, in denen sie existieren. Ohne ein geeignetes gesellschaftliches Umfeld kommen die Gene also auch nicht vorwärts. In welcher Weise dieses optimiert werden kann, können die Gene auch nicht entscheiden, sondern nur die Gehirne der Menschen, die in der jeweiligen Gesellschaft leben.
Fragen wir uns aber auch, wie uns denn unsere Gene steuern sollen. Es handelt sich letztlich um chemische Substanzen, DNS, eine Säure letztendlich, wenn auch chemisch hoch kompliziert und sehr komplex. Über ein eigenes Bewusstsein, einen subjektiven Willen verfügen sie nicht. Sie versuchen uns allerdings in der Tat chemisch zu steuern, indem sie die Produktion weiterer chemischer Substanzen codieren, darunter Hormone, die unsere Bedürfnisse produzieren. Einen Weg zu deren Befriedigung kennen die Gene allerdings nicht, da ist dann wieder das Gehirn gefragt. Und seit nun die sichere Empfängnisverhütung empfunden, betrügt das egoistische Gehirn die dummen Gene noch und noch. Es sorgt regelmäßig für die Befriedigung jener Bedürfnisse, die ihm die genproduzierten Hormone vermitteln, entscheidet aber nach eigenem Ermessen darüber, wie oft es hierbei zur wirklichen Freisetzung von Genkopien kommt, im Vergleich zu ersterem sehr selten.
Aber was ist denn nun das eigentliche „Subjekt“, die sich reproduzierende Struktur, die der Träger des genetischen Egoismus ist? Das ganze Genom, die Gesamtheit der Gene oder des genetischen Materials eines Menschen, kann es wohl nicht sein, denn schon bei der Reduktionsteilung zur Produktion der von Ei- und Samenzellen, wird das gesamte Genom in jeder dieser Zellen halbiert. Bei der Befruchtung entsteht ein neues Genom, welches zwar viele Gene beider Geschlechtszellen enthält, mit deren genetischer Zusammensetzung jedoch nicht identisch ist. Welche Gene es von den Vorgängerzellen enthält, ist ein Zufallsprozess. Bei den sich hauptsächlich durch Zellteilung vermehrenden Einzellern, bedeutete Vermehrung die Erzeugung von Kopien eines gesamten Genoms. Bei all jenen komplexeren Wesen, die sich geschlechtlich fortpflanzen, findet dies nicht mehr statt.
Wenn es wohl also kaum die Gesamtgenome sein können, die da so egoistisch sind, dann müssen es also wohl jene kleinen Abschnitte aus dem DNS-Text sein, die man im engeren Sinne als die einzelnen Gene bezeichnet, die die Synthese eines Peptid-Moleküls codieren. Was ist dann aber mit all jenen Abschnitten der DNS-Stränge, die nicht unmittelbar peptidcodierend sind, aber möglicherweise bei der geregelten An- und Abschaltung eben jener peptidcodierenden Gene eine wichtige Rolle spielen. Sind die auch so egoistisch oder nicht? Sind alle diese codierenden DNS-Schnipsel so egoistisch, auch das, welches die Erzeugung des Insulins in der Bauchspeicheldrüse codiert, oder nur jene, welche diejenigen Hormone codieren, die uns in erotische Abenteuer treiben? Kurz, das ganze Konzept der egoistischen Gene zerbröselt einem zwischen den Fingern, wenn man es näher betrachtet.
Zweifellos werden Lebewesen auf dem Organisationsniveau von Prokarionthen (Bakterien, Blaualgen) und Eukarionthen (Einzeller mit Zellkern) hochgradig von ihren Genen gesteuert. Höheres tierisches, nicht sessiles, d.h. auf Fortbewegung angewiesenes, Leben, bedarf jedoch der Informationsaufnahme aus der Umwelt. Dazu bedarf es zunächst Sinneszellen und im Laufe der Höherentwicklung in der Evolution auch Sinnesorgane. Zur optimalen Verarbeitung dieser Informationen aus der Umwelt entwickeln sich Nervenzellen zu deren Vernetzung und schließlich ein Zentralnervensystem zur Informationsverarbeitung. Dieses emanzipiert sich im Verlaufe der Evolution als Steuerungsorgan gegenüber den Genen und spielt ab einer bestimmten Entwicklungshöhe schließlich die entscheidende Rolle, beim Menschen allemale. Bei niederen Lebensforman mag man das habituelle, adulte Individuum (das ausgebildete, ausgewachsene Einzelwesen) nicht viel mehr sein, als eine Art Fruchtkörper, zur Weiterverbreitung von Genen. Dies aber auch von höheren Lebensformen, einschließlich der menschlichen, zu behaupten, ist ebenso falscher Reduktionismus, wie zu behaupten, alle Menschen wären Säuglinge, obwohl zweifelsfrei feststeht, dass es alle einmal waren, oder zu behaupten, der Mensch sei nichts als ein Affe, das unterstellen die religiösen Fundamentalisten den Darwin-Anhängern, allerdings zu Unrecht, obwohl er zweifelsfrei von Vorfahren aus dieser Ordnung des Tierreichs abstammt.
Dem Autor Peter Zudeick ist also zweifellos Recht zu geben, dass das Konzept der egoistischen Gene im Grunde wissenschaftlich wenig haltbar und aussagekräftig ist, sondern vielmehr ein Bestandteil der längere Zeit vorherrschenden neoliberalen Ideologie, unabhängig davon, Richard Dawkins als vorsätzlicher Ideologieproduzent einzuschätzen ist, oder lediglich als ein Wissenschaftler der dem vorherrschenden Zeitgeist erlag.
Der Autor kognisziert, dass die gegenwärtige sogenannte Finanzkrise von immer mehr Menschen als Systemkrise des Kapitalismus aufgefasst wird, die Werke von Karl Marx eine neue Konjunktur erleben und für immer mehr Menschen, die Überwindung des Kapitalismus wieder auf die Tagesordnung rückt. Der Autor schließt sich dieser Sicht der Dinge weitestgehend an, auch wenn er die Metamorphose des Kapitalismus zu einem weiteren Stadium, in dem der neoliberale Turbokapitalismus durch eine Ordnung staatlicher Kontrolle überwunden wird, nicht ganz ausschließen mag. Aber auch darin sieht er eine Gefahr: Hat schon der Kapitalismus in seiner neoliberalen Gestalt die Demokratie arg beeinträchtigt, dadurch dass sich die ökonomische Macht zunehmend in der Hand weniger konzentrierte, welche auch auf die Politik zunehmend entscheidenden Einfluss ausübten, bzw. letztere zur Selbstentmachtung zwangen. Eine neue Stufe des Kapitalismus, mit verstärkter Staatsmacht, die aber letztlich doch in dessen Sinne ausgeübt wird, könnte in einen Zustand autoritärer Herrschaft führen, in dem von wirklicher Demokratie nur noch ein paar Fassadenelemente belassen werden. Während die Liberalen bei jedem Gedanken an Sozialismus die Demokratie in Gefahr wähnen, kommt der Autor zu dem richtigen Schluss, dass die Überwindung des Kapitalismus gerade für den Erhalt und weiteren Ausbau der Demokratie wünschenswert wäre.
Da es Peter Zudeik leider verschmäht hat, sich in diesem Gesamtzusammenhang in größerem Maße mit der Geschichte des Realsozialismus zu befassen, seien mir hier einige ergänzende Bemerkungen gestattet. Karl Marx ging von der sozialistischen Umgestaltung in Ländern aus, in denen der Aufbau von Industriegesellschaft und Kapitalismus bereits abgeschlossen sei, die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals vollzogen. Die Oktoberrevolution aber siegte in einem Land, für welches das nicht galt. Im schwächsten Kettenglied des damaligen imperialistischen Systems hatten sich die vorkapitalistischen und kapitalistischen Klassenwidersprüche zuerst revolutionär zugespitzt und die russische Bourgeosie zeigte sich politisch nicht einmal in der Lage, eine bürgerliche Umwälzung anzuführen. Das Proletariat kam sozusagen historisch vorzeitig an die Macht. Um zu einem Sozialismus auf der Basis einer entwickelten Industriegesellschaft vorzustoßen musste die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals ersteinmal vollzogen werden. Dies bedeutete die Notwendigkeit einer hohen Ausbeutungsrate von Natur und Arbeit, wenn auch nicht Ausbeutung im Sinne privatkapitalistischer Aneignung, sondern im Sinne von Kapitalakkumulation in staatlicher Hand, so aber doch in dem Sinne, dass dem Arbeiter von der Summe seiner Wertschöpfung sehr wenig für seinen privaten Konsum belassen wurde. Diese Tatsache führte notwendig zu Widersprüchen zum ursprünglichen Sowjetsystem, der ursprünglich angestrebten proletarischen Basisdemokratie, und zur Ausprägung von Tendenzen bürokratischer Diktatur. Zwar kann diese Tatsache keineswegs die Exzesse Stalins rechtfertigen oder entschuldigen, aber man muss sich darüber klar sein, dass jede Diktatur ihre ökonomische Basis hat. (Die rassistischen Exzesse Hitlers erklären sich nicht unmittelbar aus den kapitalistisch-imperialistischen Herrschaftsverhältnissen im damaligen Deutschland, aber aus diesen resultiert die Tatsache, dass man die politische Macht an einen Diktator seines Kalibers übergab.) Dass eine sozialistische Entwicklung auf der Basis der heutigen Produktivkräfte und des heutigen gesamtgesellschaftlichen Reichtums wieder diktatorisch entarten könnte, besitzt extrem wenig Wahrscheinlichkeit.
Peter Zudeik beschäftigt sich dann, zum Ende des Buches, mit gegenwärtigen theoretischen Tendenzen, die Frage einer sozialistischen Ordnung erneut anzudenken. Da geht er zunächst auf die Arbeiten von Cockshot und Cottrell ein. Denen geht es u.a. darum, angesichts modernster Computertechnik zu widerlegen, dass moderne Volkswirtschaften zu komplex seien um planbar zu sein. Der Autor zeigt eine gewisse Skepsis gegenüber der Anschauung, Sozialismus sei in erster Linie eine Frage der Datenverarbeitungskapazität. Wer aus der ehemaligen DDR kommt, kann sich mit dem Gedanken wiederum auch noch das letzte Hühnerei der staatlichen Planbilanz zu unterwerfen, wenig anfreunden. Wohl aber ist eine staatliche Rahmenplanung korrekt, die die großen Investitionsentscheidungen betrifft, diese im Sinne des gesamtvolkswirtschaftlichen Interesses zu fällen, anstatt nur vom Interesse des absolut kostengüstigen Standortes. Die staatliche Kontrolle über den Kredit kann ein weiteres Mittel zur sozialen und schließlich sozialistischen Umgestaltung der Wirtschaft sein. Die Dislozierung der Hühnereier und der Büroklammern kann man vorerst durchaus noch dem Markt überlassen. Dann müssen auch die Superrechner nicht heisslaufen.
Sowohl nach den Vorstellungen von Cockshot und Cottrell, als auch nach denen von Äquivalenzwirtschaft von Arno Peters sollen alle Arten von Arbeit gleich bewertet werden und nur nach der geleisteten Zeit vergütet. Wie wir oben gesehen hatten, entspricht dies keineswegs dem Gerechtigkeitssinn der arbeitenden Klassen, die sehr wohl den Unterschied unterschiedlicher Qualifizierung bzw. unterschiedlicher Arbeitsqualität berücksichtigt sehen wollen. Ich halte dies auch für undurchführbar, so lange nicht im Sinne von Marx die Teilung der Arbeit generell und die Teilung von Hand- und Kopfarbeit überwunden. Dies ist noch ein weiter Weg, den zu beschreiten, ersteinmal die Überwindung der Kapitalmacht in einem Schritt erfordert. Generell aber wird hier die Frage aufgeworfen, wie denn der konkrete Arbeitswert konkreter unterschiedlicher Arbeiten zu ermitteln sei. Der Kapitalismus überlässt dieses, wie ja so ziemlich alles dem Markt, dem Arbeitsmarkt. Wo dieser weitgehend unreguliert und die Kraft der organisierten Arbeiterbewegung gering, hat er die Tendenz, den Preis der Ware Arbeitskraft noch unter ihren Wert, d.h. das Existenzminimum zu drücken. In Deutschland ist es nun schon so weit gekommen, dass hier der Staat einspringt und das Lohndumping subventioniert, indem er den Rest zum Existenzminimum draufzahlt. Um so stärker allerdings der gewerkschaftliche Organisationsgrad tritt das reine Marktprinzip zurück, hinter Formen der solidarischen Findung von Bezahlungsrichtlinien, hinter die Forderung eines fairen Anteils der Beschäftigten am Produktivitätsfortschritt. Ein Übergang zu einer sozialistischen Ordnung neuer Qualität würde natürlich nicht nur die Stärkung der Gewerkschaftsmacht erfordern, sondern wäre ohne eine solche wohl auch kaum durchführbar. Eine absolute Analysenmethode zur Messung des konkreten Vergleichswertes unterschiedlicher Arbeiten, vergleichbar der chemischen Bestimmung des Alkoholgehaltes eines Weines, dürfte meines Eraachtens niemals gefunden werden, was nicht heißt, dass nicht möglich wäre Bewertungskriterien in gesamtgesellschaftlicher Debatte zu finden. Also eher Gesellschaftsvertrag denn chemische Analyse.
Dann geht der Autor auf den deutsches Sozialwissenschaftler Heinz Dieterich ein, der als Professor in Mexiko-Stadt arbeitet und mit seinem Begriff „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ die heutigen Debatten entscheidend mitgeprägt hat. Er ist zweifellos ein interessanter Diskussionspartner, wovon ich mich letzten Sommer auf dem ND-Pressefest überzeugen konnte. Aber auch seine Sozialismusvorstellungen springen, so wie die soeben besprochenen, oft weit über eine in zeitlicher Nähe zu verwirklichende Vorstellung hinaus. Ob er also unbedingt als der Chefideologe der linken Bewegungen Südamerikas zu betrachten ist, wie hier dargestellt, darf bezweifelt werden. Ich kenne die Botschafterin der bolivarianischen Republik Venezuela in Deutschland, Frau Professor Blakanueve Portokerrera, und sie bestätigt zwar häufige Gesprächskontakte mit Hugo Chavez und ein freundliches Verhältnis, aber Chavez Chefideologen, richte sich in erster Linie nach den Praktischen Erfahrungen der sozialen Bewegungen seines oder anderer lateinamerikanischer Länder und sei im Wesentlichen sehr beratungsresistent.
Und damit sind wir bei einem springenden Punkt: Nach Marx ist bekanntlich die Praxis das Kriterium der Wahrheit. Und dem Begriff eines qualitativ neuen Sozialismus des 21. Jahrhunderts nähern wir uns wohl am besten in Betrachtung jener Länder, die bereits erste praktische Schritte auf diesem Weg gegangen sind, allen voran Venezuela und Bolivien. Keineswegs versucht man hier, mit einem Schritt in den Kommunismus zu gelangen, Markt und Geld sofort abzuschaffen. Es geht zunächst um die Vergesellschaftung der Kommandohöhen der Wirtschaft, wobei zunächst die Energiewirtschaft im Mittelpunkt stand. Vergesellschaftung wird sowohl als Schaffung staatlichen eigentums, Belegschaftseigentums oder genossenschaftlichen Eigentums verstanden, unter Betonung der betrieblichen Mitbestimmung auch bei verstaatlichten Unternehmen. Der Staat soll zum wirtschaftlichen Hauptakteur werden, aber nicht zum einzigen. Gleichzeitig wird kleines Privateigentum geschaffen, für bislang völlig Mittellose. Während der Markt seine beherrschende Stellung im Großen verliert, treten zahlreiche Klein- und Kleinstunternehmer neu in ihn ein. Der Weg den diese Länder gehen, korrespondiert gut mit jenen Debatten, die in der DDR zur Wendezeit über einen demokratischen Sozialismus geführt wurden, bevor die eintretende Dominanz des westdeutschen Kapitals ein Ende bereitete. Heute scheinen diese Debatten vergessen und selbst die Marx-Renaissance hat ihnen noch kein neues Leben wieder einhauchen können.
Wie auch immer: Der Weg des Sozialismus des 21. Jahrhunderts, wie er in Lateinamerika beschritten wird, könnte auch uns Europäern, im Verlaufe der gegenwärtigen Krise, mehr und mehr zum Vorbild werden.
PS: Das Buch ist jedenfalls empfehlenswert: Peter Zudeik, Tschüss, ihr da oben – Vom baldigen Ende des Kapitalismus, Westend Verlag Frankfurt/Main, im Piper Verlag GmbH, München, März 2009, 240 Seiten, Klappenbroschur, € 16,95 [D], € 17,50 [A], sFr 30,90, ISBN: 9783938060308